Ein Geschichtslehrbuch für den Unterricht auf dem Tablet? Genau das möchte das browserbasierte und damit system- und plattformunabhängige mBook vor allem für Schüler/innen der Sekundarstufe I sein. Es stellt sich den Anspruch, Schüler/innen zu eigenen Fragen an die ausgewählten Materialien und deren Bedeutung für das eigene Leben anzuhalten.
Seit dem 1. September 2013 ist eine Version eines mBooks in fünf Bänden für die deutschprachige Gemeinde Belgiens im Einsatz. Die Bände behandeln alle Epochen von der Antike bis zur Zeitgeschichte. Seit September 2014 wird eine minimierte Version des mBooks zur Evaluation zusätzlich an über 40 Gymnasien in NRW getestet. Das mBook kommt hier im Zusammenwirken mit Präsenzfortbildungen und einer digitalen Lehrerversion zum Einsatz. Dieses mBook NRW wurde gemeinsam von der Medienberatung NRW mit dem Institut für digitales Lernen sowie Waltraud Schreiber, Professorin für Theorie und Didaktik der Geschichte, als Kooperationsprojekt konzipiert.
Wie fördert das Projekt nun die Schüler/innen in ihren Fachkompetenzen? In den drei Bänden und zehn Methodenseiten soll die Geschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert entlang von Leitfragen dargestellt und untersuchbar gemacht werden. Das Institut für digitales Lernen hat für Eltern, interessierte Schüler/innen und andere einen Zugang zu einem Ansichtskapitel des mBook NRW zum Ersten Weltkrieg aus Band 2 »Vom Mittelalter bis in den Ersten Weltkrieg« freigeschaltet. Die Möglichkeiten zur Individualisierung des Buches, also Markierungen zu setzen und Texte in das Buch schreiben, wurden jedoch aufgrund technischer Details in der Testversion deaktiviert. Trotzdem lässt sich ein guter Eindruck der Reichweite des Projekts erlangen. Mit den Pfeiltasten am unteren Ende lässt sich einfach und an klassisch-analoge Buchformen erinnernd im Buch ‚blättern’. Die Kapitelstruktur lässt sich jederzeit am oberen linken Bildschirmrand aus- und wieder einklappen. Die gewohnte Geschichts-Buchseitenoptik prägt das Erscheinungsbild des Buches. Ziel des Projekts ist eben auch nicht analoge Gewohnheiten zu verwerfen, sondern vielmehr die Vorteile analoger und digitaler Präsentationsformen miteinander zu verbinden. Sinnvoll ist das digitale Schulbuch, da sich beispielsweise Bilder in einer gut analysierbaren Größe anzeigen lassen und da für verschiedene Lerntypen optimierte Quellenarten und auch -längen zugänglich sind.
Im mBook wird nach der Spezifik der Spannungen von »oben und unten, arm und reich, mächtig und machtlos, friedlich und gewalttätig, einsam und sozial« etc. zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten gefragt. So wird dann auch beispielsweise der Kolonialismus thematisiert und dazu angeregt, sich mit dem Völkermord der Deutschen an den Herero, aber auch mit der Legitimierung von Kolonisation durch Belgien im Kongo oder aber der Briten in Indien auseinanderzusetzen. Ziel ist es unter anderen, den Kolonialismus in Bezug zu den beiden anschließenden Weltkriegen zu setzen und die Kontinuitäten und Brüche zu denken.
An vielen Stellen bietet sich die Möglichkeit zur multiperspektivischen Quellenauswahl (Form der Quelle und Perspektive der Erzählenden). Daneben werden Aufgabenvorschläge ausgegeben, die meist auf den Umgang mit Quellen auf unterschiedlichen Niveaus zielen. Als Projektvorschläge weisen diese Vorschläge auch teilweise zur Recherche über das mBook hinaus. Schüler/innen können diese Aufgaben direkt im mBook bearbeiten, Notizen machen und Markierungen vornehmen. Damit ergibt sich die Möglichkeit eine schulzeitlange Sammlung von prozesshaften Erkenntnissen anzulegen, die ständig verfügbar und strukturiert ist. In der Vollversion finden sich diverse zusätzlich diverse Methodenseiten zum grundsätzlichen Umgang mit Quellen und zur Geschichtskultur. Ein Beispiel zu Denkmälern ist bereits in der Testversion einsehbar.
Die Autor/innen des mBook arbeiten mit durchaus ungewohnten, direkten Kommentierungen und Fragestellungen: »Warum verwenden Menschen viel Geld und Energie darauf, große Denkmäler für längst vergangene Ereignisse zu bauen? Für welche Ereignisse bauen Menschen Denkmäler? Und wie gehen wir heute mit den Denkmälern der Vergangenheit um?« Für die Schülernähe werden auch mal ›Füllwörter‹ genutzt: »An einem Beispiel möchte ich dir nun vor Augen führen, wie sich ein Denkmal im Laufe der Zeit verändert. Das Denken und Fühlen von Menschen und Gesellschaften wandelt sich ja andauernd.« Die Auswahl und die Sicht der jeweiligen Autor/innen auf das Geschehen der Vergangenheit und der Kernlehrplan werden am Ende der Kapiteleinstiegsseiten in Videos für die Schüler/innen transparent gemacht. Sie unterstreichen so einmal mehr die Perspektivität der Geschichtsvermittlung. Die Nutzer/innen sollen so angehalten werden, Meinungen zu prüfen und sich zu fragen: Was hat sie mit meinem Leben, meinen Problemen, meiner Gegenwart und Zukunft zu tun? Das mBook orientiert sich also lebensweltlich.
Mitglieder des Instituts für digitales Lernen analysierten die Potenziale und Ziele des mBooks anhand des Pilotprojekts. Digitalen Informationsmedien würde oft vorgeworfen, »Traditionslinien zu gedruckten Büchern und die an sie gebundenen Rezeptionskulturen« abzuschneiden. Im digitalen Buch sei es dagegen allerdings möglich, die Linearität der Darstellung aufzulösen: Die Autor/innen gehen davon aus, Animationen und Simulationen könnten gleichfalls dafür genutzt werden, den Konstruktionscharakter von Geschichte und damit auch von Geschichtsbüchern im Schulunterricht transparent zu machen, ohne die Verlebendigung des Stoffes zu stören. Dazu käme die Aktualität, Interaktion und Multiperspektivität der digitalen Welt. Das gedruckte Schulbuch wiederum habe seine Stärken gerade im Gewohnten und seiner chronologischen Ordnung. Die aus den Schulbuchanalysen der Autor/innen gespeiste These lautet dementsprechend, dass die Lösung nicht in einem Entweder – Oder, Digital oder Analog bestünde, sondern gewissermaßen eine Kombination aus beidem sein müsse. So könnten gerade auch die Lehrkräfte technisch und gedanklich dort abgeholt werden »wo sie stehen«. Diesem Anspruch eines »buchüberschreitenden« Mediums folgt das mBook beispielsweise in seiner Spiegelung des bekannten Erscheinungsbildes von Schulbüchern. Das mBook stellt sich selbst den Anspruch, die Möglichkeiten digitaler Erweiterung nur an den Stellen zu nutzen, an denen dies einen didaktischen Mehrwert in Bezug auf Fragestellung, Methodik und Schülernähe bedeute.
Zwar ist das mBook in der noch in der Testphase befindlichen Vollversion nach einem Download auch offline verfügbar, doch leider löst das noch nicht das Problem der Notwendigkeit der technischen Ausstattung mit einem – im besten Fall – Klassensatz von Tablets. Ein großer Vorteil des mBooks besteht in der Möglichkeit, dass es laufend modifiziert werden kann, wenn die Nutzungserfahrung oder aktuelle Forschungsergebnisse das nahelegen. Es legt den Konstruktionscharakter von Geschichte eher als analoge Schulbücher offen und fordert zur medial gestützten kritischen Reflexion heraus. Ohne den Lehrplan zu vergessen, ermöglicht es unterschiedliche Lerntypen besser einzubinden. Aufgrund seiner klaren Struktur, seiner Orientierung an analogen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht, und da es auch inhaltlich empfehlenswert ist und somit auch die Lehrkräfte gedanklich und technisch meist ›da abholt wo sie stehen‹, kann die klare Hoffnung formuliert werden, dass das mBook Schule macht und weite Verbreitung findet.
Das Ansichtskapitel zum Ersten Weltkrieg des mBook NRW lässt sich wie folgt aufrufen: nrw.multimedia-lernen.de (ohne www!), user: eltern, pw: eltern.
Schreiber, Walter/Florian Sochatzky und Marcus Ventzke, »Das Multimediale Schulbuch – kopetenzorientiert, individualisierbar und konsturktionstransparent«, in: Schreiber, Schöner, Sochatzy: Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, 2013, S. 212-232.