Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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„Nicht so sehr das Lesen von Texten, sondern das Hinausgehen in die Welt und die Bewegung in der Welt sind die primäre und paradigmatische Form der Erkundung und Erschließung.“ (Schlögel 2006: 10) Dieser Anspruch, den Karl Schlögel in seinem Werk „Im Raume lesen wir die Zeit“ stellt und dadurch zu einer Entdeckung der Zivilisationsgeschichte auffordert, könnte ebenso gut eine Aufforderung zum Geocaching sein.
Mit Hilfe von Koordinaten werden beim Geocaching versteckte Objekte gesucht. Das Spiel basiert auf der Technik des Global Positioning Systems (GPS). Die „Geocacher/innen” suchen mithilfe von GPS-Koordinaten nach zuvor im Internet recherchierten Orten. Am Ort angekommen findet sich meist eine Plastikbox – der „Cache”. In der Box: ein Logbuch, in das der Besuch eingetragen wird und oft auch kleine Gegenstände zum Tauschen. Es gibt verschiedene Arten von „Caches“: beim „Traditional Cache“ sind die genauen Koordinaten angegeben; beim „Mystery Cache“ muss ein Rätsel gelöst werden, um die Koordinaten zu ermitteln und beim „Multi Cache“ werden verschiedene Stationen mit Aufgaben erkundet, durch die die Endkoordinaten zu finden sind. In Deutschland können die meisten Geocaches auf den Plattformen recherchiert werden.
Geocaching ist überall möglich: Auf dem freien Feld, in der Großstadt oder auf dem Gelände einer Gedenkstätte. Bei Letzterem bieten meist begleitende Ausstellungen, Info-Stelen, Führungen oder Audioguides Möglichkeiten, um sich am Erinnerungsort mit seinen historischen Überresten zu orientieren und das Gesehene durch eine entsprechende Kontextualisierung in einen Sinnzusammenhang einordnen zu können. Das aktive Zutun der Besuchenden beschränkt sich dabei in den meisten Fällen auf das Hören oder Sehen der Inhalte. Ein interaktiver Austausch zwischen der einer Gedenkstätte oder einer Ausstellung inhärenten Narration und ihren Medien, der Wirkung des historischen Ortes sowie den Gedanken und Meinungen der Besuchenden, wird meist nur am Rande oder nicht vollständig angeregt.
Hier setzt der Gedanke von historischer Bildungsarbeit mit Geocaching an: Oftmals befinden sich interessante Geschichts- und Erinnerungsorte im eigenen Lebensraum, doch die meisten wissen nicht einmal um deren Existenz. Mit der Geocaching-Technik können gerade solch weitgehend unbekannte oder vergessene Orte wieder ins Bewusstsein gerückt werden. Durch das Lösen von Aufgaben an einzelnen Stationen und Berechnungen wird das Ziel erreicht. Ohne Hinweistafeln und aufwendige Schilder, ist es so fast jederzeit möglich, mehr über die Geschichte eines Ortes zu erfahren. Für eine historische Bildungsarbeit bedarf es aber einer Erweiterung.
Wann ist Geocaching Bildungsarbeit? Zentral erscheint, dass nicht eine schnelle Sammlung von Zahlen und Fakten im Vordergrund steht oder eine besonders breite Zielgruppe angesprochen werden muss. Die Gruppe sollte dazu angeregt werden, sich intensiv und auf mehreren Ebenen mit einem spezifischen Ort auseinanderzusetzen. Das „Aktiv-werden“ sollte sich dabei nicht ausschließlich auf die physische Bewegung von Ort zu Ort beschränken, sondern auch oder gerade zu Selbstreflexion durch Partizipation anregen. Die zu lösenden Aufgaben können dann wiederum eigene Produkte entstehen lassen oder zu einer Diskussion innerhalb einer Kleingruppe anregen. Grundsätzlich bieten sich daher vor allem Multi-Caches für die Bildungsarbeit an. Durch die Erkundung mehrerer Stationen lassen sich Inhalte und Perspektiven, aber auch deren mediale Vermittlungsmöglichkeiten vielfältig gestalten.
Das mediale Geocaching-Projekt „Wo Gras drüber wuchs – das Tempelhofer Feld im Nationalsozialismus“ wird im Folgenden als Beispiel für Bildungsarbeit mit einer Erweiterung des Geocachings um mediale und aktivierende Elemente vorgestellt.
Nachdem archäologische Grabungen der Freien Universität Berlin auf dem Tempelhofer Feld die historischen Funde aus der Zeit des Nationalsozialismus zu Tage gebracht hatten, mussten die Grundmauern einer Baracke des Lagers für Zwangsarbeiter/innen der Lufthansa aus Gründen des Denkmalschutzes wieder zugeschüttet werden. Die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit auf dem Tempelhofer Feld bleiben daher für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar. Durch das Projekt „Wo Gras drüber wuchs – Das Tempelhofer Feld im Nationalsozialismus“ macht die Berliner GbR past[at]present diese Orte sicht- und hörbar und lädt mit der Methode des Geocachings zum Neuerkunden der Geschichte ein. Eingebettet in einen multimedialen Workshop spricht das Projekt Jugendgruppen der außerschulischen und schulischen Bildung an: Eingesprochene historische Dokumente und Interviews ergeben neun Stationen auf dem Feld. Die Teilnehmenden empfangen am authentischen Ort über einen Tablet-PC vielfältige Hintergrundberichte zur Bedeutung des Tempelhofer Feldes im Nationalsozialismus und zu persönlichen Schicksalen. Töne und Bilder aus der Vergangenheit treffen auf die Gegenwart des beliebten Freizeitortes Tempelhofer Feld und somit auch auf die Lebenswelt der Jugendlichen. In Kleingruppen werden mithilfe der GPS-Funktion eines Tablet-PCs und Koordinaten einzelne Stationen aufgesucht. Wird eine Station erreicht, befindet sich dort beispielsweise ein Hinweis, der die Geschichte des Ortes verdeutlicht. Über Audiostücke werden Hintergründe erklärt, anschließend gelangen die Teilnehmenden durch kleinere Aufgaben zur nächsten Station. Zielgruppengerechte Fragestellungen regen die Jugendlichen weiteren Aufgaben zur Diskussion über das Gehörte und das Gesehene an. Wichtig ist hier das „aktiv“ werden: Neben der Anregung zum Austausch, aktivieren einige Aufgaben zu eigenen Produkten, zum Beispiel ein eigenes Video zu drehen oder eine Zeichnung anzufertigen. Die Ergebnisse führen sie dann zum finalen Cache, der sich ganz klassisch in einer Plastikbox befindet.
Die Caches dieses Projektes sind keine statischen Verstecke, die theoretisch von jedem/r Geocacher/in zu jeder Tages- und Nachtzeit gefunden werden können, sondern werden explizit für die Dauer des Workshops versteckt.
Weltweit gibt es derzeit mehr als 2,5 Millionen aktive Geocaches und über sechs Millionen registrierte Geocacher/innen. An vielen historischen Orten wie Gedenkstätten befinden sich Caches, die für die Geocaching-Community entwickelt und versteckt, aber nicht für die Bildungsarbeit konzipiert wurden. Die Methode des Geocachings stellt einen bislang ungehobenen Schatz für die historisch-politische Bildungsarbeit dar. Obwohl sich allmählich vor allem Museen und Gedenkstätten mit der Methode als Spurensuche auseinandersetzen, werden die medialen Vermittlungsmöglichkeiten für die Bildungsarbeit bislang nicht ansatzweise ausgeschöpft. Das Potential des Geocachings liegt in der aktivierenden, spielerischen und gleichzeitig authentischen Vermittlung von Geschichte an ihrem historischen Ort. Die Erweiterung des Geocaching mit verschiedenen Medien, ermöglicht einen breiteren Zugang zu Geschichte, lässt die Rezipierenden durch die Einbettung in einen Workshops aber nicht mit sich selbst zurück, sondern trägt durch Diskussionen und eigene Produkte dazu bei, sich gemeinsam auf diese Geschichte einzulassen und sie individuell wahrzunehmen.
Bestehende Konzepte, wie das Projekt „Wo Gras drüber wuchs“ bieten dafür erste, exemplarische Ansätze, die in der Zukunft noch weiterentwickelt und/oder auf andere historische Orte übertragen werden könnten.
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 10.
Beide Autorinnen sind Mitglieder der GbR past[at]present. Die Gruppe bietet in den Sommermonaten auf Nachfrage Geocaching-Workshops für Interessierte auf dem Tempelhofer Feld an. Ebenso werden Fortbildungen für Lehrer/innen und Multiplikator/innen zum Thema „Bildungsarbeit mit Geocaching“ organisiert. Weitere Informationen und Kontaktdaten finden Sie unter: http://past-at-present.de/