Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Was erfährt ein deutscher Schüler bzw. Schülerin über die Bedeutung und die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg? Nimmt man die Geschichtsschulbücher für die Sekundarstufe 1 als Maßstab, dann ist es nicht allzu viel. Der Zweite Weltkrieg wird im Durchschnitt auf 25 bis 30 Seiten abgehandelt, wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil der Darstellung auf den Holocaust fällt. In jüngster Zeit wird der Krieg meist in ein Kapitel „Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg“ integriert, wo er nur noch als ein Aspekt dieses totalitären Regimes in Erscheinung tritt. Im Buch „Geschichte real“ (Bd. 3, Cornelsen: 2013, Ausgabe für NRW) reduziert sich die Zahl der Buchseiten für den eigentlichen Krieg auf diese Weise auf 2 bis 3. Da der Krieg in seinem Verlauf eine Vielzahl von Schauplätzen aufwies, die aus deutscher Sicht zu berücksichtigen sind, verbleiben für „Polen“ manchmal nur wenige Zeilen oder kurze Abschnitte und einzelne Bilder. Nur im Einzelfall, wenn Geschehnisse in Polen oder mit Polen als exemplarisch herangezogen werden – etwa im Fall von polnischen Zwangsarbeitern -, können es auch zwei bis drei Seiten sein.
Egal ob in Kurz- oder Langform – als Grundinformation werden folgende gegeben: Polen wird zunächst erwähnt als ein Land, gegen das sich die nationalsozialistische Aggression vornehmlich richtete und das in der Hitlerschen Diktion „vernichtet“ werden sollte. Als wesentliches Motiv des Hitler-Stalin-Paktes wird entsprechend die Absicht herausgestellt, freie Hand gegen Polen zu erhalten. Polen verbindet sich sodann unmittelbar mit dem Kriegsbeginn, der mit dem „Überfall auf Polen“ ein Datum bis hin zur genauen Uhrzeit erhält. Der Septemberfeldzug gegen Polen ist aus Sicht des Lesers eines Schulbuchs kaum dass er begonnen hat, schon beendet – zu groß war die deutsche Übermacht und zu überraschend wirkte die erstmals angewandte Blitzkriegsstrategie. Propaganda-Fotos von Sturzkampfflugzeugen und gepanzerten Limousinen, auf denen Wehrmachtssoldaten mit polnischen Grenzschildern als Trophäen in Polen einfahren, festigen dieses Bild. Als drittes Motiv gerät das brutale Besatzungsregime in den Blick. Meist durch Quellen untermauert werden die rassenideologische Versklavung der polnischen Bevölkerung, Massenerschießungen von Vertretern der polnischen Elite sowie Massaker an den polnischen Juden behandelt. Deren Zusammenpferchung in Ghettos wird erwähnt, wobei der Aufstand im Warschauer Ghetto und dessen Niederschlagung als trauriger Höhepunkt erscheint. Dies leitet zum vierten Punkt über, an dem „Polen“ ins Blickfeld gerät: Polen als der geographische Ort, an dem der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Judenheit, in zentraler Weise stattfand und für den Auschwitz zum Symbol wurde. In der Darstellung dieses Geschehens verliert sich allerdings der polnische Bezug, da es fast gänzlich mit Juden, evtl. noch mit Sinti und Roma verbunden wird. Zum Kriegsende hin taucht „Polen“ im Zusammenhang mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten noch einmal auf. Diese wird dargestellt als eine für die Beteiligten sehr schmerzliche Folge des Krieges. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass auch andere Bevölkerungsgruppen, nicht zuletzt die Polen selbst, in diesem Krieg Opfer von Zwangsumsiedlung geworden sind.
Die hier skizzierten deutschen Schulbuchdarstellungen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg waren auch früher schon von polnischen Vertretern der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission in Augenschein genommen und als sachgerecht und fair beurteilt worden. Dennoch dürfte die Begegnung zweier Jugendlicher aus Deutschland und Polen durchaus Erstaunen und Überraschungen auf beiden Seiten hervorrufen, wenn die beiden ihr Schulbuchwissen über den Zweiten Weltkrieg vergleichen.
Alarmierend sind diese Widersprüche und Mängel in den Schulbuchdarstellungen nicht. Sie erzeugen keine Feindbilder. Jugendliche aus Deutschland und Polen werden sich wohl eher über die Unterschiede wundern. Aber in ihren eventuellen Gesprächen darüber entsteht vielleicht doch das, wovon wir offensichtlich noch ein gutes Stück entfernt sind, nämlich eine gemeinsame europäische Erinnerung.