Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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In diesem Jahr der vielen Gedenken jährt sich der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Nur selten zuvor dürfte man sich beim Rückblick auf dieses Ereignis so sehr auf die eigene Zeit zurück geworfen gefühlt haben wie in diesen Monaten, in denen die zu Ende geglaubte kriegerische Geschichte Europas wiederzuerwachen scheint und Krieg erneut in das Spektrum des politisch Möglichen rückt. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat eine Dimension erreicht, der uns Zeitgenossen über die Gefahr eines neuen (nur kalten?) Krieges nachdenken lässt. Der vielerorts brüchige und unvollkommene, aber bis zu den jugoslawischen Nachfolgekriegen gewahrte Frieden, den Europa seit 1945 erleben durfte, steht in diesen Tagen, so scheint es, auf dem Spiel.
Jedes historische Gedenken ist gebunden an die Zeit, in der es entsteht. Doch man sollte sich vom Schatten der Gegenwart nicht überwältigen lassen. Zunächst gilt es, sich durch das Dickicht von Geschichte und Geschichtserinnerung – die in diesen Tagen vor allem um den Ersten Weltkrieg kreist – hindurch zu kämpfen und zurück zu kehren zum 1. September 1939.
Der Satz, mit dem Hitler den deutschen Angriff auf Polen begründete, enthielt die ganze Kaltblütigkeit, Großmäuligkeit und Bedingungslosigkeit, mit der das Nazi-Regime den daraus erwachsenen Zweiten Weltkrieg führen sollte: „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ Der fingierte Angriff auf den Sender Gleiwitz eröffnete eine ganze Serie von Feldzügen gegen Deutschlands nahe und ferne Nachbarn. Deren Terminierung und konkrete Ausführung stand damals noch keineswegs genau fest, sie waren aber in Hitlers Weltanschauung und der daraus abgeleiteten Innen- und Außenpolitik frühzeitig angelegt. Kern dieser Politik war die rassistische Lebensraumgewinnung im Osten Europas, die „Arisierung“ der deutschen Gesellschaft, die Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen, allen voran der Juden, sowie die Zerstörung des „asiatischen“ Sowjetkommunismus, der in den propagandistischen Begleitschlachten ebenso zum Auswuchs jüdischer Weltverschwörungspläne erklärt wurde wie der westliche Kapitalismus. Der Angriff auf Polen war in dieser Kalkulation eine Art Generalprobe für jene Vernichtungskriegsführung, die alle bis dahin gekannten Kriege in den Schatten stellen sollte und für die die 1945 total besiegte deutsche Wehrmacht seither berüchtigt ist.
Die deutsche Gesellschaft ist 1939 keineswegs jubelnd in diesen ersten Feldzug gezogen. Sie war aber durchzogen von Ressentiments: gegenüber Juden, Aufsteigern, Linken, Homosexuellen oder vermeintlichen Asozialen. Das Regime konnte so in einer Mischung aus sozialpolitischen Wohltaten, propagandistischem Dauerfeuer und aggressiver Großmachtpolitik zur „Wiederherstellung“ der „deutschen Ehre“ große Teile der deutschen Bevölkerung hinter sich und mit sich in diesen Krieg ziehen – bis hin zur systematisch betriebenen Plünderung und Ermordung von sechs Millionen Juden, Abertausender politischer Häftlinge, 3,3 Millionen russischer Kriegsgefangener, Sinti und Roma und anderer als „lebensunwert“ erachteter Zivilisten. Die anfängliche Skepsis schlug um in Führerbegeisterung. Doch mit dem bereits im ersten russischen Winter stockenden Krieg gegen die Sowjetunion und den andauernden alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte wandelte sich die Blitzsiegbegeisterung in Apathie, in Angst vor der Rache der erstarkenden Kriegsgegner und in einen selbstmörderischen Durchhaltewillen, auf den das Regime bis zum letzten Tag seiner Existenz bauen konnte.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg war die Schuldfrage nach 1945 nicht umstritten. Nur ein paar verstreute Alt- und Neonazis sowie eine Handvoll irregeleiteter Historiker versuchten, die von Hitler seit dem 1. September 1939 vorgetragene Präventivkriegsthese salonfähig zu machen. Gerade weil dieser Krieg so vernichtend für Europa und für Deutschland selbst war, stand auch das kollektive Erinnern daran von Anfang im Schatten seiner Folgen. Jenseits der Küchentische, an denen überall in Deutschland alle Arten des aufrechnenden, schuldabweisenden, verdrängenden oder auch offenherzigen Gedenkens von Generation zu Generation getragen wurden, war das Reden über den Krieg im öffentlichen Raum vom bald heraufziehenden Kalten Krieg geprägt. Die ideologische und faktische Zweiteilung der Welt verlangte den Eliten in beiden Deutschlands enorme, vor allem enorm flexible, Deutungsarbeit ab.
Im Westen wandelten sich seit Ende der 1940er Jahre die ehemaligen Kriegsgegner USA, Großbritannien und Frankreich zu Bündnispartnern, während die Sowjetunion in alter Melodie als weiterhin zu bekämpfender Feind der westlichen Zivilisation galt. Im Osten mühte man sich darum, die Sowjetunion in ganz neuer Melodie zum großen Bruder zu stilisieren, deren wehrhaft verteidigter Sozialismus die Erlösung der Welt versprach. Die Täter und Opfer des Zweiten Weltkriegs samt der Vielen, die mittaten, zuschauten, profitierten und samt der Wenigen, die protestierten, widersprachen und riskierten, gerieten so in ein alle Erfahrungen strukturierendes Deutungsgerüst. Welches Ereignis wie erinnert wurde, welche Haltung und Handlung wie bewertet wurde, entschied lange Jahre vor allem die politisch-ideologische Großwetterlage. Natürlich wirkte diese Strukturierung nicht absolut, sie bröckelte nachhaltig im Westen in den 1960er Jahren und kaum merklich im Osten in den 1980ern. Dennoch blieb das Gedenken an den Weltkrieg so lange geteilt, wie Deutschland selbst.
Der Angriff auf Polen spielte in dieser Gemengelage häufig nur eine untergeordnete Rolle. In der DDR lag der Fokus derart nachdrücklich auf dem Angriff auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941, dass das Septembergedenken – trotz des republikweit orchestriert begangenen „Weltfriedenstages“ – im Schatten des Junigedenkens lag. In der Bundesrepublik brachte es erst Willy Brandt zustande, im Zuge seiner Ostpolitik dem Schicksal der Polen einen angemessen Platz im öffentlichen Diskurs und in der bundesdeutschen Außenpolitik zu verschaffen. Diese Differenzierung scheint seit 1989 in globaler ausgerichteten Gedenknarrativen wieder zu verwischen. In der Berliner Republik ging es lange um die feierliche Umarmung der friedlich zueinander gekommenen ehemaligen Kriegsgegner, wie es die Anwesenheit der Bundeskanzler Schröder und Merkel bei den Siegesfeiern in Moskau 2005 und 2010 exemplarisch zeigt.
Heute, im Jahr des Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 (der unglückliche Auftakt des 20. Jahrhunderts) und den Mauerfall 1989 (der glückliche Ausgang desselben) gerät der Zweite Weltkrieg beinahe etwas in Vergessenheit. Vielleicht, weil dessen Ursachen und Folgen weniger umstritten sind als die des Ersten Weltkriegs; vielleicht, weil dessen Ausgang den meisten Europäern – anders als das Jahr 1989 – keinerlei Siegesgefühle bescherte. Dass nun gerade in diesem Gedenkjahr 2014 Bundespräsident Gauck in seiner Rede auf der 50. Münchener Sicherheitskonferenz die Deutschen dazu aufrief, über ihre Verantwortung für Krieg und Frieden in der Welt neu, ja vielleicht überhaupt erst richtig nachzudenken, gar darüber zu streiten, ist zu Recht im Kontext des doppelten Kriegsgedenkens diskutiert worden. Damit sind die Deutschen ungewöhnlich unverblümt zum „Lernen“ aus der Geschichte auf- und herausgefordert worden. Dass dieses Lernen überhaupt möglich ist, daran darf man mit Gauck glauben. Dass es überhaupt nur möglich sein kann, wenn Geschichte, vor allem die Geschichte von Kriegen, im öffentlichen Raum im besten Sinne umstritten bleibt, davon muss man mit ihm überzeugt sein.