Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Es war, als sei alles in einem schwarzen Loch verschwunden. Die Rede ist von der umfassenden und mannigfaltigen belletristischen Literatur zum Ersten Weltkrieg. Die belletristische Epik als doch nicht unwichtige Zeitdiagnose von Zeitzeugen oder Kundigen teilte das (bisherige) Schicksal auch der in historischer Hinsicht mangelhaften Gewichtung des Ersten Weltkrieges in diesem Land. Sie fand kaum Eingang in die Curricula, die nach wie vor steuern, was Unterrichtsthema ist und was nicht. Natürlich, jetzt zum 100jährigen Gedenken, nehmen die Verlage Fahrt auf, vor allem im Segment Sachbuch. Beliebt ist der „Historikerstreit“ in allen Variationen. Im März 2014 zum Beispiel „Clark gegen Krumeich“ als Neuauflage der beliebten „Fischer-Kontroverse“ im Deutschen Historischen Museum nach Einladung und Eröffnung durch den Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der sich immerhin alle Mühe gibt, ein bisher sträflich vernachlässigtes Thema doch noch auf die politische Agenda zu setzen.
Der unterhaltsame inszenierte und durchaus lehrreiche Streit von Experten für Experten hat mit Lernen allerdings herzlich wenig zu tun. Denn Lernen muss ja in erster Linie heißen: Wie bringe ich jungen Menschen von heute diese „Urkatastrophe“ mit ihrer Vorgeschichte, ihrem Verlauf und ihren Folgen näher? Welche Bedeutung hat dieser „grande guerre/great war“ für das Europa und die Welt von heute? Und für mich als jungen Menschen in diesem gar nicht so stabilen Europa? Literatur kann helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Literatur schafft durch nachfühlendes Lernen Empathie, sie bietet Identifikationen an, ihre bewusste sprachliche Gestaltung, ihre narrativen Muster, ja, auch ihr Unterhaltungswert – all das kann Lernen erleichtern.
Deshalb hier eine knappe subjektive Auswahl von Literatur zum Ersten Weltkrieg, mit der man Unterricht gestalten kann, als Positivauswahletwas abseits bekannter Literatur. Dabei setze ich voraus, dass Geschichtslehrer/innen inzwischen erkannt haben, dass das Herstellen von Empathie und die Reflexion narrativer Strukturen über belletristische Literatur auch dem Fach selbst nützt – und das umgekehrt Deutschlehrer/innen durchaus auch Daten, Quellen und Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft als befruchtende Elemente für literarisches Lernen zu schätzen wissen. Lernen aus der Geschichte – das ist im Grundsatz eine fächerübergreifende Angelegenheit.
Soweit es sich um Sek.I-Schülerinnen und Schüler (SuS) handelt, ist Michael Marpurgos Jugendroman „Gefährten“(war horse/1984) eine Fünf-Sterne-Empfehlung. Der Erste Weltkrieg an der Westfront wird aus der Sicht einer sich sensibel entfaltenden Liebesbeziehung zwischen Mensch und Tier dargelegt. Der Junge heißt Albert, das Pferd heißt Joey. Die Handlung beginnt in England in der Grafschaft Kent, Joey wird aus der ländlichen Idylle heraus vom trunksüchtigen Vater Alberts bei Ausbruch des Krieges an die Kavallerie verkauft. Drüben in Nordfrankreich wird schon zu Beginn nach einem verheerenden Kavallerieangriff, der im MG-Massaker endet, deutlich, dass diese althergebrachte militärische Formation am Ende ihrer geschichtlichen Rolle steht. Die Darstellung geht nicht nur Tierfreunden „unter die Haut“. Sie verdeutlicht geradezu vorbildlich, wie literarisch-empathisches Lernen und historisches Lernen sich gegenseitig befruchten können. Ein trockener Satz in einem Geschichtslehrbuch wie „Die Kavallerie spielte im Ersten Weltkrieg keine bedeutende Rolle mehr.“ wird hier so sinnfällig und einprägsam veranschaulicht, dass auch bei wenig interessierten SuS Lernprozesse unterstützt und Lernergebnisse dauerhaft implementiert werden können.
Im weiteren Verlauf der Handlung gerät Joey zwischen die Fronten, wird schließlich eines von Abertausenden Arbeitspferden jenseits aller Kavallerieherrlichkeit und teilt das Schicksal der verdreckten, verletzten, verröchelnden Menschen und am Ende – aber das soll nicht verraten werden…. Jedenfalls ist das didaktische Potential umfassend: der Roman kann im Fach Englisch natürlich als Originaltext eingesetzt werden, neben klassischen Deutsch-Themen bietet sich eine Filmanalyse an, denn Steven Spielberg hat den Stoff 2011 für 66 Mio. $ aufwändig verfilmt. Für ältere oder fortgeschrittenere Schüler/innen sind vergleichende Untersuchungen Buch-Film möglich und sinnvoll. Was aber grundsätzlich dieses Werk aus der Masse anderer heraushebt, ist die schlichte Tatsache, dass es kein Buch aus nur britischer Nationalperspektive ist. Der Krieg, Menschen und Tiere in ihrem Leben und Leiden werden universell verstehbar. Es gibt kein Freund-Feind-Denken, es gibt keinen Hass. Joey wird von einem kleinen französischen Mädchen genauso geliebt wie von Friedrich, dem deutschen Soldaten, der auch nur eine geschundene Kreatur ist. „Gefährten“ des englischen Autors Michael Marpurgo ist ein humanistisch-pazifistisches Buch, das dennoch nicht darauf verzichtet, die Schrecken des Krieges auch wirklich darzustellen. Ein Glücksfall.
Eine interessante Ausgangsidee setzt die Autorin Maja Nielsen in ihrem Werk „Feldpost für Pauline“ (2013) einfühlsam um. Ein Brief des Soldaten Wilhelm aus Verdun wird fast 100 Jahre zu spät zugestellt – an die 14-jährige Pauline, die Urenkelin der damaligen Pauline. Es folgen weitere Feldpostbriefe und Pauline und die Leser geraten in einen Sog und können sich dem Thema „Was war da eigentlich los vor 100 Jahren?“ nicht mehr entziehen. Es geht um eine schreckliche Zeit und eine große Liebe vor dem Hintergrund alltäglicher heutiger Gegenwartssorgen und –erfahrungen, das kann männliche und weibliche Lernende gleichermaßen interessieren, was nicht die allerschlechteste Voraussetzung für die Lektüreauswahl ist. Die Feldpostbriefe sind nicht echt, sondern auf der Basis umfassenden Quellenstudiums literarisch fingiert. Eben das ist, wie hier gelungen, eine Stärke der Literatur. Sie kann unter Lerngesichtspunkten als fiktive Realität in bestimmter Hinsicht besser sein als die reale Realität. Der didaktische Zeigefinger stört da nicht, wenn Quellen seriös ausgewertet und professionell neu literarisch gestaltet werden. Dem leicht zu lesenden Buch ist eine Zeittafel zum Ersten Weltkrieg angehängt, das ist ebenso selten wie vorbildlich für den Zweck „Lernen aus der Geschichte – Lernen mit Literatur.“ Und selbstverständlich wird man die literarischen Feldpostbriefe mit echten Feldpostbriefen, wie man sie mühelos auch im Internet findet, vergleichen und bearbeiten können. Hinzu kommt, dass der WDR den Stoff als Hörspiel aufbereitet hat. Das Hörspiel erhielt 2009 den Deutschen Kinderhörspielpreis. Anregung genug, um in geeigneten Klassen z.B. experimentell das Umsetzen von Romanhandlung in Hörspielsequenzen vertiefend zu üben.
Schon nah an der Abenteuerliteratur angesiedelt ist der Roman „Wüstenmatrosen“(2008) von Olaf Fritsche. Der Titel erklärt sich aus der spannenden Flucht einer Schiffsbesatzung der kaiserlichen Marine aus Fernost nach Deutschland über 13.000 km auch über die arabische Wüste zurück ins Deutsche Reich und basiert auf dem authentischen Fall des Schiffes „S.M.S. Emden“. Die Abkürzung S.M.S. steht übrigens für „Seiner Majestät Schiff“ – Wilhelm II. betrachtete ja „seine“ Marine als sein Lieblingsspielzeug vor dem Krieg – und mehr war sie ja auch im Krieg dann nicht. Der abenteuerliche Stoff ist von Berengar Pfahl 2011 als Spielfilm unter dem Titel „Die Männer der Emden“produziert worden und wird in einer zweiteiligen TV-Fassung voraussichtlich Karfreitag 2014 in der ARD ausgestrahlt. SuS verstehen mit Hilfe dieses Stoffes, warum es sich zwischen 1914 und 1918 um einen Weltkrieg handelte, der sich eben nicht nur an der Westfront in Europa abspielte. Die Rolle der Marine, Handelsinteressen, der (imperialistische) Interessenkonflikt verschiedener Weltmächte einschließlich des Osmanischen Reiches können exemplarisch nachgearbeitet werden. Je nach Schwerpunktsetzung ist der Stoff tendenziell deshalb auch für ältere SuS und z.B. Vollzeitklassen unterhalb der gymnasialen Oberstufe oder an BBS gut geeignet.
Ähnliches gilt für einen Klassiker der Jugendliteratur. Es ist dies der erste Teil einer Trilogie von Klaus Kordon zur Geschichte einer Familie: „Die roten Matrosen“(1984), die auch in einer gekürzten Schulausgabe vorliegt. Auch wenn zu Romanbeginn der Krieg beendet ist, wird sehr klar, welche Folgen der Krieg hatte. Die Rückkehr des kriegsversehrten Vaters, Nachkriegshunger, Arbeitslosigkeit, Teuerung , Revolution und innenpolitische Auseinandersetzungen – das sind der Stichworte genug für einen fundierten Geschichts- und Literaturunterricht. Die SuS werden im Kern angeregt, die Folgen eines Krieges für normale Menschen nicht auszublenden und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Das ist zwar weniger Abenteuer und weniger Geopolitik, aber in pädagogischer Hinsicht für die eigene Lebensplanung besonders wertvoll.
Ein weiterer Fünf-Sterne-Tipp nun für Sek.II aufwärts bis zum Abitur ist der Roman von Edlef Koeppen „Heeresbericht“(1930) . Dieser Roman aus der Sicht des Soldaten Reisiger, der Angehöriger einer an West- und Ostfront eingesetzten Artillerieeinheit ist, wird gegenwärtig wiederentdeckt. Im Verhältnis zu Erich Maria Remarques weltberühmten „Im Westen nichts Neues“ (1928) oder Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (ab 1920 in verschiedenen Fassungen) ist dieser Roman zu Unrecht wenig bekannt. Selbst Arnold Zweigs „Erziehung vor Verdun“ (1935) oder Ludwig Renns „Krieg“ (1928) oder gelegentlich noch Walter Flex „Der Wanderer zwischen zwei Welten“(1916) sind bekannter. Wie kommt das?
Koeppens Werk hatte wenig Zeit, sich zu entfalten. Schon im Januar 1933 kamen die Nazis an die Macht. Goebbels hasste dieses Buch nicht so wie das von Remarque, aber sein Ende: ein Offizier wird wahnsinnig und verdammt den Krieg mit den Worten: „…es ist ein Verbrechen, auch nur eine Sekunde weiter teilzuhaben an dem Mord“ war komplett unakzeptabel aus nationalsozialistischer Sicht. Die Tucholsky-Prozesse zu einem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz „Soldaten sind Mörder“ hatten schon zuvor die Rechte geeint. Koeppen hatte keine Chance, auch wenn der Realismus seiner Darstellung durchaus der von Jünger ebenbürtig ist, ohne dessen straffkonservativen Offiziershabitus zu imitieren. Ungewohnt für die damaligen Leser war auch die von Koeppen verwendete Montagetechnik: er montierte zur Romanhandlung Zeitdokumente hinzu. Das war innovativ und an sich hochmodern, aber eben gegenüber der didaktisch bequemen Handlung Remarques wohl noch zu anspruchsvoll für eine weite Verbreitung in kurzer Zeit. Mehr als 10.000 Exemplare wurden nicht verkauft. Das Buch hatte dann die Ehre, 1933 den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer zu fallen. Heute ist gerade dieser Roman ein Glücksfall an sich und für den fächerübergreifenden Unterricht Geschichte-Deutsch. So beginnt der Roman mit der Originalverordnung des Kaisers zum Kriegszustand vom 31. Juli 1914 und erst nach weiteren Dokumenten folgt die Romanhandlung. Manchmal ist aber auch die Romanhandlung so kurz wie eine dokumentarische Feststellung, sodass die Grenzen zwischen dokumentarischer Realität und Fiktion fließend sind. In Abschnitt 11 des siebenten Kapitels des zweiten Teils am Schluss heißt es lapidar: 7 057 000 Mann gegen 2 500 000 Mann. Punkt und aus. Dieses siebente Kapitel übrigens ist tatsächlich Abiturstoff in einem Bundesland: Niedersachsen. Im Abitur 2016 im Fach Deutsch ist es gesetzt im Modul „Literatur als Zeitdiagnose“ innerhalb des Rahmenthemas 3 des nds. Kerncurriculum: Literatur und Sprache um 1900. Koeppen: Fünf Sterne plus ein Sternchen.
Ebenfalls sehr empfehlenswert ist das Werk „Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges, erzählt in neunzehn Schicksalen“(2011)von Peter Englund. Schon allein wegen des Umfangs ist dieses Werk eher für die Hand des Lehrers zur Unterrichtsvorbereitung und Lektüreauswahl geeignet. Die Schicksale sind in miteinander verwobenen Episoden dargestellt. Englund schafft es, den Krieg multiperspektivisch auf der Basis historischer Quellen aus der Sicht des Einzelmenschen aus verschiedenen Nationen, verschiedenen Geschlechts und Alters, verschiedener Waffengattungen und Fronten etc. zu einem Kaleidoskop zu bündeln. Daher lassen sich die Episoden je nach Schwerpunkt im Unterricht als Kurztexte sehr variabel unter verschiedensten Gesichtspunkten in Unterricht integrieren. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist eine preiswerte Ausgabe erhältlich (shop!). Insgesamt eine ungeheure Leistung des schwedischen Historikers, der gleichzeitig Sekretär der Schwedischen Akademie ist, die u.a. auch den Literaturnobelpreis vergibt, über den Englund als einer von 18 Juroren mitbestimmt. Englund ist ein Historiker, der gleichzeitig Literat ist. Noch ein Glücksfall.
Ein besonderer Fall ist Avi Primors Roman „Süß und ehrenvoll“ (2013).Dieses Teilzitat des häufig auf „Kriegerdenkmälern“ oder Kriegsgräberstätten verwendeten und dauerhaft in Stein gemeißelten (Un-)Sinnspruches „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ spielt schon im Titel kritisch mit der schon im Kaiserreich und dann wieder bei den Nationalsozialisten zelebrierten Todeskult, der gefallene Soldaten grundsätzlich als „Helden“ verklärt. Hier ist die interessante Grundkonstellation, dass sich als Antipoden in abwechselnden Handlungssträngen zwei junge jüdische Soldaten gegenüberstehen. Der Deutsche als Bürgersohn Ludwig, der Franzose als Bäckersohn Louis. Ludwig und Louis eint an sich ihr noch unerkanntes Judentum, es trennt sie der Patriotismus für ihr jeweiliges Vaterland. Vor dem Hintergrund der späteren Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sind Romanauszüge mindestens immer dann für Unterricht nutzbar, wenn der abgrundtief menschenverachtende Rassismus der Nazis erklärt und begreiflich gemacht werden soll. Auch die keimhafte Diskriminierung von normalen jüdischen Soldaten schon im Ersten Weltkrieg als Entlastungsfunktion für das Versagen der militärischen Führung wird erklärbar. Avi Primor war Botschafter Israels in der Bundesrepublik von 1993 und 1999.
Ein Hinweis zum Schluss. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat sich vorgenommen, in Zukunft Schulen weiteres Material zum Ersten und Zweiten Weltkrieg zur Verfügung zu stellen. Es gehört zur Kernaufgabe des VDK im Rahmen der Erinnerungskultur zu den verheerenden Kriegen, für Frieden und Versöhnung zu arbeiten. Zur Stärkung insbesondere der Jugendarbeit und der Zusammenarbeit mit Schulen wird es deshalb mittelfristig auch zum Thema „Lernen mit Literatur – Erster Weltkrieg“ eine Publikation geben. Wer daran interessiert ist, schickt eine E-Mail mit dem Betreff „Kontaktdaten VDK-Bildung“ plus Name, Funktion, Schule, Adresse an wk1418 [at] gmx [dot] de.