Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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„Geteilte Erinnerungen. Gemeinschaftsleben in der Großsiedlung Britz im Spiegel internationaler Erfahrungen“ - unter dieser Überschrift luden wir im Auftrag des Museums Neukölln und gefördert von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) zwischen Juni und Oktober 2012 zu einer zehnteiligen Workshopreihe ein. Im Rahmen eines Forschungs- und Ausstellungsprojekts zur Geschichte der im Süden Berlin-Neuköllns gelegenen Großsiedlung Britz/Hufeisensiedlung in der Zeit des Nationalsozialismus, sollten geschichtsinteressierte Neuköllner/innen die Möglichkeit haben, im Austausch miteinander lokale Geschichte zu untersuchen und Erinnerungen aufzuarbeiten. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt des Bezirks Neukölln hatten wir uns von Beginn an auch mit der Frage beschäftigt, wie sich die Auseinandersetzung mit Geschichte „inklusiv“ gestaltenlässt.
Drei Fragen waren für uns zentral:
Wie lässt sich die Erinnerung und Aufarbeitung der lokalen Geschichte so gestalten, dass sich jeder und jede, unabhängig von regionalen Herkünften und Identitäten daran beteiligen kann?
Wie lässt sich das lokale Erbe in eine fruchtbare Beziehung setzen zu historischen Erfahrungen von Neuköllner/innen aus aller Welt?
Wie lässt sich die Vielfalt von historischen Identitäten und Erfahrungen, die eine Migrationsgesellschaft konstituieren, würdigen und sichtbar machen?
Anknüpfend hatten wir uns zum Ziel gesetzt, die Zeit des Nationalsozialismus, beispielhaft gemacht an der Geschichte der Hufeisensiedlung, als „globales Erbe“ zu betrachten, an dessen Aufarbeitung sich jede/r gleichberechtigt und ungeachtet ihrer/seiner Herkunft beteiligen kann. Die Geschichten von Zeitzeugen aus der Siedlung sollten in der Workshopreihe genauso ihren Platz erhalten, wie die Geschichten von Personen, die selbst, oder deren Groß- und Elterngeneration nach 1945 nach Deutschland/Neukölln gekommen waren. Um eine möglichst große Bandbreite an Geschichten und Perspektiven zu versammeln, richteten wir unsere Einladung auch gezielt an migrantische Vereine im Norden Neuköllns.
Elf Personen fanden im Rahmen der Workshopreihe zu insgesamt zehn Treffen zusammen, die jeweils drei Stunden dauerten. Die Erwartungen und Bedürfnisse der Teilnehmer/innen waren meist mit ihren Vorerfahrungen und Familiengeschichten verknüpft. Die drei ältesten Teilnehmer/innen (Jahrgänge 1928, 1929 und 1938) waren allesamt in der Hufeisensiedlung geboren und hatten den Wunsch Rückschau zu halten; Bewohner/innen der Siedlung, die in jüngerer Zeit zugezogen waren, verband das Interesse an neuen Erkenntnissen über die politische Geschichte der Hufeisensiedlung; Eine Neuköllnerin brasilianischer Herkunft äußerte ein besonderes Interesse an einem Zusammentreffen mit Zeitzeugen der NS-Zeit. Sie erhoffte sich durch eine solche persönliche Begegnung, Geschichte und Gegenwart Deutschlands besser zu begreifen, um schließlich auch, umfassender als bisher, daran teilhaben zu können; Eine in Polen geborene Teilnehmerin interessierte sich für das Berlin der Weimarer Republik, weil ihre Großmutter damals hier lebte; Eine Person befand sich beim Beginn der Workshopreihe gerade in einer Phase der Aufarbeitung langer verdrängter türkisch/kurdischer Familiengeschichte. Sie erhoffte sich vor allem einen kritischen Austausch über den Umgang mit (Geschichte von) Minderheiten und gegenwärtige Ausgrenzungsdynamiken.
Diesen unterschiedlichen Bedürfnissen einen angemessenen Raum zu geben war einen Herausforderung. Das Interesse an der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der Hufeisensiedlung schien zu dominieren, dennoch wollten wir den Schritt wagen, das aus mehrheitsgeschichtlicher Perspektive vertraute Terrain zu verlassen.
Wir entschlossen uns dazu, die Workshopreihe in zwei Blöcke aufzuteilen. Einem, mit dem Schwerpunkt Hufeisensiedlung, in dem wir gemeinsam das Gemeinschaftsleben in der Hufeisensiedlung vor und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten untersuchen wollten; und einem zweiten Block, in dem wir die Erfahrungen der NS-Zeit in eine globale Perspektive rücken wollten. Wir beabsichtigten uns vergleichend damit zu beschäftigen, wie es weltweit immer wieder dazu kommt, dass Menschen, die nachbarschaftlich Tür an Tür leben, plötzlich zu Feinden werden. Uns interessierte wie im Kontext von Diktaturen oder Bürgerkriegen religiöse, ethnische oder nationale Identitäten geschaffen und Feindbilder konstruiert werden. Konkretisieren wollten wir unsere Fragen an Hand der Beschäftigung mit zwei historischen „Ereignissen“ aus der jüngeren Zeitgeschichte. Aufgrund bereits vorhandener Kontakte zu Experten/innen wählten wir die ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und den Genozid in Ruanda.
Als Grundlage der Auseinandersetzung im ersten Block beschäftigte sich die Gruppe sowohl mit historischen Quellen, wie zum Beispiel Fotografien und Zeitungsausschnitte aus dem Archiv des Museums, als auch mit persönlichen Erinnerungen. Außerdem führten wir die Themen jedes Einzeltermins durch kleine Inputs ein.
In beiden Themenblöcken war es uns wichtig, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen, das unterschiedliche historische Wissen und die sich daraus ergebenden Fragen der Projektteilnehmenden ins Zentrum zu rücken. Dabei machten wir die Erkenntnis, dass es oft gerade die persönlichen Erzählungen waren, die den Rahmen für (geographische) Perspektivwechsel schufen, weil sie in den Projektteilnehmer/innen wechselseitig Erinnerungen wach riefen. So fühlte sich eine Brasilianerin, während der Erzählungen einer älteren Dame aus der Hufeisensiedlung über die Präsenz von Uniformen und die täglichen Fahnenappelle in der NS-Zeit, plötzlich in ihre Kindheit während der Militärdiktatur versetzt: „Heute“, so erzählte Jania, „ist die Fahne ein populäres Symbol und wird sogar als Aufdruck auf Bikinis getragen – während der Diktatur: undenkbar. Der Fahne gebührte der allerhöchste Respekt. Das wurde uns Schulkindern jeden Tag eingetrimmt.“
Für die Beschäftigung mit dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien kooperierten wir mit dem Verein Süd-Ost-Europa Kultur e.V.; Die Auseinandersetzung mit Ruanda gestalteten wir gemeinsam mit dem Verein Ruanda Connection. Für beide Vereine sind Gedenken und historische Aufarbeitung zentraler Bestandteil ihrer soziokulturellen und politischen Bildungsarbeit. Die Erfahrungen von heute in Deutschland lebenden Zeitzeug/innen werden dabei fruchtbar gemacht. Für unsere Ansatz war die Kooperation mit diesen Vereinen ein großer Gewinn, weil sie uns ermöglichte, historische Ereignisse, die auf Grund einer großen geographischen Distanz zum Hier und Jetzt in weiter Ferne scheinen, als Teil der Gegenwart Berlins sichtbar zu machen. Uns war bewusst, dass wir die genaue Betrachtung, die jeder unserer Untersuchungsgegenstände bedurft hätte, nur im Ansatz gerecht werden konnten. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung wurde einerseits deutlich wie wichtig es ist, die Entstehung von kollektiven Verbrechen in ihren jeweiligen Kontexten, ihrer jeweiligen Zeit und Region zu verstehen. Der Blick auf Kontinuitäten in der Entstehung von ethnischen Konflikten andererseits, ebnete den Weg für eine tiefergehende Reflexion über historische Verantwortung. Die Projektteilnehmer/innen beschrieben die Beschäftigung mit beiden Themenkomplexen als wichtige Horizonterweiterung.
Den vielschichtigen Erfahrungen der Workshopteilnehmer/innen immer genügend Platz einzuräumen und den komplexen geschichtlichen Zusammenhängen gerecht zu werden, stellte sich als Herausforderung dar. Doch das geplante Endprodukt, ein Hörspaziergang durch die Hufeisensiedlung, bot uns einen Rahmen, um auch im Nachhinein Diskussionen fortzuführen und Geschichten Gehör zu verschaffen, die während der Projekttage vielleicht zu kurz gekommen waren. Ein Ergebnis, an dem ein größeres Publikum teilhaben kann, erschien uns zugleich als Möglichkeit interessant, Bewohner/innen und Besucher/innen der Hufeisensiedlung dazu anzuregen, aus einer neuen Perspektive über den Ort und seine Geschichte nachzudenken.
Der Hörspaziergang sollte durch die Hufeisensiedlung führen, klar war jedoch, dass wir keinen klassischen lokalgeschichtlichen Führer entwickeln wollten, sondern etwas, das den breiten Auseinandersetzungsprozess der Workshopreihe widerspiegelte. Durch das Zusammenführen von Interviews mit Teilnehmer/innen der Workshopreihe und zwei eingeladenen Sprecherinnen entstand so am Ende eine Hörcollage aus Erinnerungen und Reflexionen, die die Hörer/innen auf eine Zeit- und Gedankenreise mitnehmen. Der Spaziergang geht persönlichen Geschichten nach, folgt aber auch den Gedanken der Protagonisten bei ihrer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Rolle von Erinnerung in der Migrationsgesellschaft. Immer wieder sind die Zuhörer/innen dabei herausgefordert, die Grenzen der lokalen Erinnerungslandschaft zu überschreiten.
Der Hörspaziergang ist als Download verfügbar und kann unter www.wegegeheneinhoerspaziergang.de abgerufen oder vor Ort ausgeliehen werden.
Georgi, Viola B. und Ohliger, Rainer (Hg.) (2009): Crossover Geschichte: Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung.
Kolland, Dorothea (2011) :z.B. 650 Jahre Rixdorf – Neukölln Stadtgeschichte divers. Eine Projektdokumentation, Berlin: Bezirksamt Neukölln.
Kux, Ulla (2006): Deutsche Geschichte und Erinnerung in der multiethnischen und -religiösen Gesellschaft. Perspektiven auf interkulturelle historisch-politische Bildung, in: Heidi Behrensn und Jan Motte (Hg.), Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Velag, S. 241–259.
Sternfeld, Nora (2013): Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung: Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft, Wien: Zaglossus.
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Gutshof Britz