Wie fühlt sich Leben für die Kinder derer an, die ihr eigenes Leben nur durch Zufall vor dem nationalsozialistischen Terror retten konnten?
In ihrem Buch setzt sich Nejusch, die Tochter polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender, mit ihrer Familiengeschichte und der Frage auseinander, wie das Schweigen über die traumatischen Ereignisse zwischen den Generationen durchbrochen werden kann.
Ihre innere Zerrissenheit spiegelt sich nicht nur in ihren Worten, sondern auch in dem gewählten Genre wieder: Ihr Briefroman gibt in stetiger Abfolge den Blick auf die Perspektiven und Gedanken verschiedener Adressierender und Adressierter frei. Der nicht-jüdische Brieffreund, dessen Korrespondenz das Herzstück des Buches darstellt, bleibt bis zum Ende in der Anonymität eines Fragen stellenden, zuhörenden und antwortenden Gegenübers, dessen Identität allein zur Ordnung der Gedanken Nejuschs dient: „ ... ohne einen anderen Menschen verfange ich mich im Gestrüpp der tausend parallelen Leben“. Es wird deutlich, dass ihr Wunsch, ihre Geschichte und damit ihr Leben zu ordnen, ein existentieller ist. Doch was, wenn das Sortieren der gemachten Erfahrungen und die Suche nach der eigenen Identität gleichzeitig eine Retraumatisierung der Eltern bedeutet? Verzweifelt versucht die Tochter der Überlebenden durch Nachfragen, Deutungen und Reflexionen die Bruchstücke des unsagbaren Leids ihrer Eltern und der Generation der Überlebenden zu einem greifbaren Ganzen zusammenzuführen. Die Briefe, die sie zu diesem Zwecke schreibt und empfängt, kommen von und richten sich an die verschiedensten Personen, die in einer Verbindung mit ihrem Leben stehen: Die Geschwister, die Kinderfrau, die ehemaligen Freund/innen und die Mutter. Diese, eine schöne, erfolgreiche und starke Frau, bleibt der Tochter zeitlebens eine Unbekannte. Die Sehnsucht nach ihrer Zuneigung, der mütterlichen Wärme und des Verständnisses für die Gefühle der Tochter, stellt das zentrale Moment des Buches dar. Die Suche nach Zärtlichkeit und Liebe durch die Eltern gibt der Tochter Antrieb und lässt sie zugleich verzweifeln. Die Eltern versuchen derweil, durch den Erfolg und die enthusiastische Formung der eigenen Zukunft die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Für die Kinder entsteht dadurch eine Gegenwart ohne Vergangenheit, die ein großes Fragezeichen hinterlässt und Schweigen produziert.
Wenngleich es sich bei dem Roman nicht um eine chronologische Wiedergabe der einzelnen Stationen einer Familiengeschichte handelt, bekommt man doch einen Eindruck von der Lebensrealität sogenannter Displaced Persons, die nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors entwurzelt und traumatisiert einen Neuanfang wagen mussten. Einfühlsam und zugleich unverstellt beschreibt die Autorin die verschiedenen Wegmarken von Holocaustüberlebenden am Beispiel ihrer eigenen Eltern. Der Blick auf die Ereignisse ist der einer Heranwachsenden durch die Brille der gealterten Tochter. Sie springt durch die Jahrzehnte, geht in die (schriftliche) Auseinandersetzung mit den Menschen, die sie umgaben, und nutzt ihren Brieffreund um das Erlebte und Gehörte zu reflektieren. Durch die zahlreichen Briefe an ihn, den nicht-jüdischen Deutschen, erfahren die Leser/innen en passant viel über die jüdische Kultur – ihre Bräuche, Feste und Speisen.
Der Roman ist ein sehr persönlicher und sensibler Versuch, die Perspektive der Zweiten Generation, der Kinder der Überlebenden, darzustellen und in die Gesellschaft zu tragen. Er lädt die Leser/innen dazu ein, sich in eine Terra Incognita zu begeben, sei es die einer anderen Generation oder eines anderen Familienhintergrunds. In diesem Sinne kann er dazu beitragen, das Schweigen zwischen den Generationen zu brechen und gleichermaßen den Austausch zwischen den Angehörigen der nachfolgenden Generationen – unabhängig von ihrem familiären Hintergrund – anzustoßen.
Für Jugendliche kann ein Briefroman zunächst angestaubt und unverständlich erscheinen. Die Offenheit, mit der die Briefe der Autorin verfasst sind, schafft jedoch schnell ein Gefühl der Nähe und Vertrautheit. Die klare und jugendliche Sprache macht die Situation und die Gefühle, der sich die Protagonistin ausgesetzt sieht, versteh- und nachvollziehbar.
Das Buch gibt nicht nur einen persönlichen Einblick in die Gefühlswelt der Autorin, sondern zeichnet ein kluges und einfühlsames Bild von der post-nationalsozialistischen Gesellschaft, in der viele Täter unbelangt blieben, die Opfer um Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben rangen und die Kinder oftmals auf der Strecke blieben. Der Roman von Nejusch leistet daher einen wichtigen Beitrag zu dem Diskurs darüber, wie ein Leben in Deutschland nach dem Holocaust mit all seinen Nachwirkungen heute möglich ist.