Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Das Planspiel „Die Fahrt der Exodus 1947“ veranschaulicht das Thema Migration aus historischer Perspektive vor allem am Beispiel der Displaced Persons (DPs) aus Bergen-Belsen. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen wurde in der benachbarten ehemaligen Wehrmachtskaserne das größte DP-Camp für jüdische Überlebende der Shoah in der britisch besetzten Zone eingerichtet.
Das Planspiel ist Teil des Projektes „Entrechtung als Lebenserfahrung“ der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Das Projekt wird seit 2008 aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds im Rahmen des Programms "Inklusion durch Enkulturation" gefördert. „Entrechtung als Lebenserfahrung“ richtet sich an Multiplikator/innen sowie Schlüsselpersonen in Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung. Darin werden Konzepte und Methoden der historisch-politischen Bildungsarbeit sowie der Menschenrechts- und Demokratieerziehung erarbeitet und ausprobiert.
Ein wesentliches Ziel des Gesamtprojekts ist, das historische Lernen an Themen, die aus der Geschichte des Ortes Bergen-Belsen generiert werden, mit der Reflektion eigener Fremdheits- und Ausgrenzungserfahrungen zu verbinden und so Spielräume für das eigene Handeln zu erkennen.
Die Veranschaulichung dessen, was Migration bedeutete und noch heute bedeutet, schien uns am ehesten in Form eines Planspiels umsetzbar. Die Fahrt des Schiffes „Exodus 1947“ als Teil der illegalen Einwanderungsbewegung nach Palästina wiederum ist gut erforscht. Es liegt eine Vielzahl von Dokumenten und Berichten vor, die sich sehr gut für die pädagogische Arbeit aufbereiten lassen.
Ziel des Seminarmoduls ist, am Beispiel der eher unbekannten Geschichte der „Displaced Persons“ Herausforderungen und Schwierigkeiten während eines Migrationsprozesses zu veranschaulichen und dies mit Gegenwartstransfers und der Thematisierung von Flüchtlingsrechten zu verbinden.
Voraussetzung für eine Gruppe ist, dass sie bereits einmal in der Gedenkstätte Bergen-Belsen war.
Das Seminar erstreckt sich über zwei Tage. Der erste Tag widmet sich dem Ort Bergen-Belsen mit Schwerpunkt auf dem Ausstellungsteil über das DP-Camp. Den Einstieg am zweiten Tag bildet ein inhaltlicher Input zur Situation in Palästina im Jahr 1947 – dem Jahr, in dem das Schiff „Exodus“ versuchte, dort illegal an Land zu gehen. Im Anschluss findet das Planspiel statt. Grundsätzlich besteht für jede/n Teilnehmer/in die Möglichkeit, während des gesamten Ablaufs aus dem Geschehen auszusteigen.
Das Spiel besteht aus sieben Stationen, die mit denen der Exodus-Passagiere identisch sind.
Gestützt auf biographisches Material lernen die Teilnehmenden die Situation europäischer Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg kennen, deren Ziel die Auswanderung nach Palästina war. Da nicht nur DPs an Bord der Exodus waren, werden im Planspiel neben den „klassischen“ DPs auch ungarische Jüdinnen und Juden, die den Weltkrieg im Budapester Ghetto überlebten sowie polnische Flüchtlinge nach den Pogromen 1946 vorgestellt.
Die Teilnehmenden lernen ebenfalls die jüdischen Untergrundorganisationen Bricha und Haganah kennen, die die Begleitung der Flüchtlinge gewährleisten, sowie die Motivation einzelner Mitglieder, in diesen Organisationen zu arbeiten.
Die Teilnehmenden dürfen sich drei Gepäckstücke aus einer Liste auswählen und begeben sich auf den Weg zur Exodus. Es werden Hindernisse simuliert, die den Weg durch Europa bis zur französischen Küste erschweren. So verzögert bspw. die Geburt eines Kindes oder Transportschwierigkeiten die Weiterreise. Nachdem die Teilnehmenden das „Schiff“ betreten haben, zeigt eine Powerpoint-Darstellung die Ereignisse während der Fahrt nach Haifa.
Die „Exodus“ muss verlassen werden. Die Teilnehmenden werden in englischer Sprache auf drei Schiffe der britischen Marine aufgeteilt. Gepäckstücke gehen verloren. Die Passagiere müssen die Rückreise nach Frankreich antreten.
Die Teilnehmenden haben wie die Passagiere damals einen längeren Stopp an der französischen Küste sowie die Möglichkeit, ihr Schiff zu verlassen. Zur Verdeutlichung der Sprachenrelevanz erfolgen Informationen für die Passagiere erneut in Fremdsprachen: diesmal auf Französisch und Englisch. Teilnehmende, die an Bord bleiben, gehen nach einem etwas längeren Aufenthalt zur nächsten Station.
Nach ihrer Ankunft in Hamburg erreichen die Teilnehmenden das Lager Pöppendorf.
Dort durchschreiten sie an den damaligen Umständen orientierte Begebenheiten: Desinfektion, Registrierung, Austeilung von Exodus-„Ausweisen“ sowie eine Auslandsarbeitsvermittlung. Das Ende des Planspiels stellt die Gründung des Staates Israels dar, die allen Teilnehmenden erlaubt, nun legal auszuwandern.
Im Anschluss erfolgt eine umfangreiche Reflexionsrunde, die mit der Möglichkeit eines Gegenwarttransfers endet.
Das Seminar befindet sich in der Erprobungsphase und wurde bisher mit zwei Gruppen durchgeführt: mit jungen Erwachsenen, die auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachholen, sowie in englischer Sprache mit deutschen und israelischen Multiplikator/innen. Zu den Erfahrungen können hier nur schlaglichtartig einige Punkte hervorgehoben werden:
Es wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Schicksal europäischer Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschen Unterricht kaum Beachtung findet. Die Auseinandersetzung hiermit stieß auf großes Interesse.
Der Arbeit mit den Biographien wurde während der ersten Phase viel Raum zugestanden und von den Teilnehmenden beider Gruppen jeweils sehr positiv hervorgehoben. Die anfängliche Befürchtung, dass die intensive Beschäftigung mit dem Leben Holocaust-Überlebender zu belastend wäre, hat sich nicht bestätigt.
Während des Ablaufs haben die Teilnehmenden zum Teil längere Wartezeiten (die Fahrt der Exodus, an der französischen Küste, während der Registrierung). Dies ist beabsichtigt, da es den historischen Tatsachen entspricht – jenes musste mit den Teilnehmenden jedoch intensiv herausgearbeitet werden.
In beiden Gruppen gelang der Gegenwartstransfer mühelos. Es wurden die Situation der Boat People an der EU-europäischen Grenze und die Wichtigkeit von Ausweispapieren genannt. Ebenso zogen sie Parallelen hinsichtlich Sprachschwierigkeiten während des Migrationsprozesses.
Die Themen NS sowie historische und gegenwärtige Migration sind Bestandteil des Curriculums – das Planspiel ermöglicht im Rahmen der Gedenkstättenarbeit unkonventionell und fächerübergreifend, das Thema DPs als kausale Folge des NS und als Bestandteil der Geschichte Bergen-Belsens in den Fokus zu rücken und gleichzeitig die Brücke zu Inhalten wie Migration und Flüchtlingsrechte zu schlagen.
In der folgenden Projektphase sollen deshalb die Transfermöglichkeit ausgebaut und ein Seminarmodul zum Menschenrecht auf Asyl explizit ausgearbeitet werden.
Eine ausführliche Darstellung über die Methodik des Planspiels siehe: Geißler-Jagodzinski, Christian, Simulationsspiele.