Seit Jahren gilt das ehemalige Jugendkonzentrationslager Uckermark – von den Nationalsozialisten euphemistisch als „Jugendschutzlager“ bezeichnet – als ein umkämpfter Ort. Das Gelände, das sich in unmittelbarer Entfernung zum ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück befindet, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vom sowjetischen Militär genutzt. Erst nach dem Abrücken der GUS-Truppen im Jahr 1993 wurde das Areal für die Öffentlichkeit zugänglich, und es entbrannte eine Debatte um die Geschichte des Ortes, seine Aufarbeitung und die Entstehung eines Gedenkortes. Während offizielle Stellen zunächst kein Interesse zeigten, die Verantwortung für die Zukunft und Entwicklung des Ortes zu übernehmen, bildete sich aus dem Kreis der Lagergemeinschaft Ravensbrück eine Gruppe engagierter Frauen, die ab 1997 regelmäßig sogenannte Frauen/Lesben-Baucamps auf dem Gelände des ehemaligen Lagers organisierte. Ziel war es, durch archäologische Ausgrabungen und wissenschaftliche Forschungsarbeiten mehr über die Geschichte des Ortes zu erfahren, und ein Konzept für einen künftigen Gedenkort zu entwickeln. Die unermüdliche Arbeit der Initiative rief schließlich auch andere Institutionen und Interessengruppen auf den Plan und so wurde in jahrelangen Diskussionen, intensiver Zusammenarbeit und teilweise kontrovers geführten Auseinandersetzungen darum gerungen, eine angemessene Lösung für diesen viel umkämpften, fast in Vergessenheit geratenen Ort zu finden. Dabei ging und geht es nicht nur um die Zukunft des Geländes, sondern auch um die Frage, inwieweit Gedenkorte Teil einer institutionalisierten Erinnerungspolitik sein müssen. Die Forschungswerkstatt Uckermark, die sich aus einem studentischen Seminar im Studiengang Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin bildete, hat in dem Band „Unwegsames Gelände. Das Jugendkonzentrationslager Uckermark – Kontroversen um einen Gedenkort“ geschichtliche Hintergründe, aktuelle Debatten und neue Forschungsergebnisse zusammengefasst.
Ein einführender Text der Herausgeber/innen gibt einen Überblick über die historische Bedeutung des Ortes und die strukturellen Bedingungen im Lager. Schwerpunktmäßig wird hier auf die Inhaftierungsgründe und die spezifischen Gruppen von Verfolgten eingegangen. Bei den Häftlingen, die ab Juni 1942 in das Lager deportiert wurden, handelte es sich vor allem um Mädchen und junge Frauen, die aufgrund des Stigmas „asozial“ nicht in das Bild der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ passten. Das „Jugendschutzlager“ sollte also in erster Linie dem vermeintlich notwendigen Schutz der deutschen Jugend vor Jugendlichen dienen, die aus verschiedenen Gründen nicht der nationalsozialistischen Norm entsprachen. Etwa weil sie Widerstand geleistet, eine Arbeit verweigert oder sich anderweitig dem nationalsozialistischen Kollektivzwang entzogen hatten. Auch junge Frauen, die als „sexuell verwahrlost“ stigmatisiert wurden, wurden in das Lager deportiert.
Des Weiteren gibt der Einführungstext einen Einblick in die politischen und ökonomischen Schwierigkeiten, die mit der Entwicklung des Ortes verbunden waren und sind. Er beschreibt die Entstehungsgeschichte und Motivation der Forschungswerkstatt, den vorliegenden Band herauszugeben. Hierbei wird auch darauf eingegangen, wodurch sich die gendertheoretisch und feministisch geprägte Perspektive der Forschungsgruppe auf das Thema begründet.
Auch Insa Eschebach, Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, befasst sich in ihrem Beitrag mit der Geschichte des Ortes. Sie geht der Frage nach, aus welchen Gründen das Lager und die inhaftierten Mädchen und Frauen nach 1945 erinnerungspolitisch überblendet wurden und das Gedenken an den Ort erst nach langwierigen Bemühungen einen Rahmen fand.
Matthias Heyl geht auf die Schwierigkeit der Benennung und der damit einhergehenden Einordnung verschiedener Zusammenhänge durch die gewählten Begriffe ein. So setzt er sich in seinem Beitrag intensiv mit der Bezeichnung „Jugendschutzlager“ und der sprachlichen Fixierung jener Lagerphase auseinander, in der Anfang 1945 Frauen aus dem KZ Ravensbrück selektiert und zur Ermordung in das Lager Uckermark gebracht wurden. Eben diese Phase wird durch einen weiteren Beitrag von Verena Buser nachgezeichnet, historisch eingeordnet und mit Vorgängen in anderen Lagern verglichen.
Zwei Beiträge von Dörthe Schulz, Roman Klarfeld und Christa Schikorra thematisieren ebenfalls die historischen Zusammenhänge des Lagers. Der Fokus liegt hier allerdings auf den Täter/innen, die im Kontext des Lagers Uckermark maßgeblich an der Stabilisierung des im NS sozialpolitisch propagierten Stigmas der „Asozialität“ beteiligt waren.
Mehrere Beiträge setzen sich mit verschiedenen traditionellen, etablierten und alternativen Gedenkformen auseinander. Es findet eine ausführliche Beschreibung und Einordnung des Konzeptes des „Offenen Gedenkens“ statt, welches von der „Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.“ für einen Gedenkort Uckermark vorgesehen wird. Des Weiteren stehen mehrere Aufsätze für eine kritische Auseinandersetzung mit der oftmals entpolitisierten und instrumentalisierten bundesdeutschen Gedenk- und Erinnerungspolitik. So kritisieren Sylvia Degen und Claudia Krieg in ihrem Beitrag die Aneignung von Gedenkorten zur nationalen Identitätsbildung. Lena Nowak gibt einen Einblick in das Spannungsfeld der verschiedenen konfligierenden Gedenkentwürfe im Kontext des Lagers Uckermark und Corinna Tomberger analysiert das Konzept und die praktische Umsetzung des „Offenen Gedenkens“ vor Ort. Dominique Hurth verbindet in ihrem Beitrag schließlich die Darstellung verschiedener Gedenkformen und künstlerischer Realisierungen von Denkmälern mit Überlegungen zu der Entwicklung eines Gedenkortes auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Uckermark.
Zwei weitere Texte lenken den Blickwinkel auf die verschiedenen gendertheoretischen Aspekte des Themenfeldes. Meike Günther empfiehlt in ihrem Text, das Herausbilden eines historischen Narrativs als andauernden Prozess zu verstehen, der Raum für Widersprüche, heterogene Ansichten und divergierende Perspektiven lässt. Lisa Gabriel stellt in ihrem Beitrag aus der Perspektive einer feministischen Parteilichkeit die Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Erbe des Lagers.
Der Band eignet sich sehr gut, um eine Begehung des Geländes inhaltlich zu füllen und theoretisch zu untermauern. Des Weiteren bietet die Publikation eine gute Möglichkeit, um Formen der Diskriminierung und Verfolgung von Jugendlichen aufzuzeigen, die sich nationalsozialistischen Vorstellungen und Zwängen entzogen, Widerstand leisteten oder aufgrund „rassenbiologischer“ Zuschreibungen und Stigmatisierungen nicht der nationalsozialistischen Norm entsprachen. Die feministische Perspektive des Bandes kann außerdem einen Einstieg in gendertheoretische Debatten um Opfer- und Täterschaften im NS und Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens bieten. Zum selbstständigen Arbeiten eignet sich das Buch erst für die Sekundarstufe II, einige Texte können jedoch auch für die konzeptionelle Erarbeitung von Unterrichtseinheiten für jüngere Klassen hilfreich sein.