Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Buchenwald, Sachsenhausen, Torgau, Münchner Platz Dresden und „Roter Ochse“ Halle/Saale gelten als Orte „doppelter Vergangenheit“ in dem Sinne, dass auf die dort verübten nationalsozialistischen Verbrechen kommunistische folgten. An deren Opfer zu erinnern, ohne diese gegeneinander aufzurechnen oder in eine Rangfolge zu bringen, ist eine Aufgabe der dort errichteten Gedenkstätten. Darüber hinaus sollen und wollen sie aber auch die Ursachen des Unrechts vergegenwärtigen und bei den Besucher/innen Nachdenken darüber anstoßen, wie sie selbst dazu beitragen können, dass sich derartiges nicht wiederholt.
Aufgrund ihrer zeitlichen Mehrschichtigkeit besitzen diese Orte – so die erste Leitthese – ein besonderes didaktisches Potenzial für historisches Lernen, das bislang nicht optimal genutzt wird. Entsprechende pädagogische Überlegungen, Konzepte oder Angebote gibt es in den genannten Gedenkstätten bislang nicht. Die historische Komplexität stellt die Bildungsarbeit zugleich vor außerordentliche Herausforderungen, insbesondere in Form einer tendenziell nivellierenden Rezeption seitens der Besucher/innen – so die zweite Leitthese. Allgemeingültige Rezepte für die Bildungsarbeit gibt es trotz ihrer Gemeinsamkeit einer „doppelten Vergangenheit“ nicht, denn behandelt werden – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – unterschiedliche historische Themen an Orten mit unterschiedlichen Graden von Aura und Authentizität.
In erster Linie soll Grundwissen über das historische Geschehen am konkreten Ort vermittelt werden: Was ist hier passiert? Wer war davon betroffen? Wer war dafür verantwortlich? Da viele Besucher/innen nur „eine Vergangenheit“ dieser Orte kennen, wird ihnen beiläufig, unaufdringlich und anschaulich vor Augen geführt, dass es noch ein „davor“ oder „danach“ gab. Besucher Buchenwalds erfahren, dass die sowjetische Geheimpolizei das ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager als Speziallager fortführte. Besucher/innen der Gedenkstätte Bautzen erfahren, dass die Bautzner Gefängnisse nicht erst in der SBZ/DDR, sondern schon im Nationalsozialismus Teil des politischen Repressionsapparates waren.
Aber auch jenseits der an sich schon bedeutsamen Komplettierung des Wissens über das Geschehen am Ort und der Vervollständigung der Perspektive auf Diktaturverbrechen im vorigen Jahrhundert, ergeben sich aus der Mehrschichtigkeit Einsichten und Anregungen zum Nachdenken. Simplifizierung, eindimensionale Betrachtungsweisen und Schwarz-Weißdenken fallen allgemein schwerer. Überraschungen regen Fragen an und können irritieren. Die Orte scheinen sich besonders gut dazu zu eignen, geschichtliche Zusammenhänge zu veranschaulichen. So ist es nicht möglich, über die sowjetischen Speziallager zu sprechen, ohne vom deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu reden. Zugleich waren sie Teil des sowjetischen Straflagersystems, des „Archipel Gulag“.
Und wie steht es um den Diktaturenvergleich? So nahe er an diesen Orten liegt, so schwieriger wird es, wenn es historisch konkret wird. Ein bloßer Vergleich des Haftalltags in Bautzen vor und nach 1945 wäre beispielsweise zu oberflächlich, würde die NS-Zeit bagatellisieren und nicht zu Einsichten in die unterschiedlichen Voraussetzungen und Funktionen der jeweiligen Haftanstalten führen. Und doch gibt es mögliche Vergleichsebenen.
Wodurch wird man beispielsweise in Weltanschauungsdiktaturen zum Feind und welche Formen von Zivilcourage gab es? Hier bieten vor allem Einzelfallstudien über so genannte doppelt Verfolgte, zum Beispiel Heinz Brandt, Arno Wend, Erwin Jörris, Milada Horáková, Wilhelm Grothaus oder „Zeugen Jehovas“, reichhaltiges Material. Wieso führten inhaltlich durchaus unterschiedliche Weltanschauungen wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus zu ähnlichen Herrschaftstechniken und zu vergleichbar gravierenden massenhaften Verletzungen grundlegender Menschenrechte? Der Kommunismus gilt immerhin vielen noch heute als eigentlich „gute Idee, die nur schlecht verwirklicht worden sei“. Insofern kann man sich an diesen Orten gleichermaßen mit der Verführungskraft totalitären Denkens von rechts wie von links auseinandersetzen. Dessen Parallele liegt in dem Versprechen, auf Basis einer vermeintlichen Einsicht in Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung durch einen radikalen Umbau der bestehenden Ordnung die Übel der modernen Welt zu beseitigen. Ein solches Versprechen aber kann zeitlos attraktiv sein.
Das beschriebene Potenzial wird gegenwärtig nur unzureichend genutzt, weil sich dem Relativierungsvorwurf aussetzt, wer Nationalsozialismus und Kommunismus in einem Atemzug nennt. Zudem stellt der Diktaturenvergleich in einer zeitlich begrenzten pädagogischen Veranstaltung eine große Herausforderung dar. Insbesondere bedarf er eines Vorwissens, über das beispielsweise Schüler/innen (doch nicht nur diese!) in der Regel (noch) nicht verfügen.
Das Problem der Verschränkung von Opfer- und Täterschaft bei den Speziallagergefangenen wurde öffentlich breit und kontrovers diskutiert. Pauschales Gedenken führt zur Bagatellisierung der NS-Verbrechen, weshalb anteilige Täterschaft selbst bei jenen nicht verschwiegen werden darf, die Opfer neuen Unrechts wurden. Andererseits: Unrecht bleibt Unrecht und muss als solches benannt werden, auch wenn es Menschen betraf, die selbst Unrecht befördert, verübt oder stillschweigend hingenommen hatten. Diese Differenzierung ist nicht nur für Opfer des Stalinismus, sondern auch für Opfer des Nationalsozialismus einzufordern, denn auch unter ihnen gab es Menschen, die sich vorher oder nachher schuldig machten. Als konfliktreich erweisen sich Schwerpunktsetzungen auf die eine oder andere Zeitperiode, da sie von vielen Menschen, die in der „nachgeordneten“ Diktatur gelitten haben, als Zurücksetzung empfunden werden.
Eine, vielleicht sogar die große Herausforderung für Gedenkstätten mit mehrfacher Vergangenheit liegt darin, differenzierende Einsichten hinsichtlich Kontext, Dimensionen und Folgen des Unrechts in den verschiedenen Zeiträumen bei den Besucher/innen zu befördern. Wie Besucherbucheinträge und Besucherstudien vermuten lassen, stellen Besucher/innen – unabhängig von den Intentionen der Kurator/innen – überwiegend Ähnlichkeiten, Parallelen oder gar eine Gleichheit der thematisierten Perioden heraus. Das historische Geschehen in den aufeinanderfolgenden Zeiträumen wird unter einen Oberbegriff subsumiert, zum Beispiel „Unrecht“, „Willkür“ oder „totalitärer Terror“. Ursächlich hierfür ist zum einen die Anmutung der Orte, die durch ihre baulichen Relikte und durch das Schicksal der Gefangenen, die in den unterschiedlichen Zeiträumen in denselben Zellen und Baracken ähnliches Leid erfuhren, sinnlich wahrnehmbar für Analogien, Kontinuität und Parallelen stehen. Zum anderen kommen Gleichmacherei und einfache Erklärungsmuster dem Besucherbedürfnis nach eindeutiger Orientierung und Übersichtlichkeit, aber auch Entlastungsbedürfnissen („endlich kann auch über die Verbrechen der anderen gesprochen werden“) entgegen.
Fazit: Orte mit „doppelter Vergangenheit“ besitzen gerade aufgrund ihrer Komplexität und Unübersichtlichkeit großes Potenzial für die Beförderung eines differenzierten und reflexiven Geschichtsbewusstseins. Es sollten daher künftig verstärkt Angebote für die vergleichende Auseinandersetzung mit beiden Teilen der komplexen Vergangenheit entwickelt und ihre Wirkung bei den Rezipienten erforscht werden.