Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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In einer Demokratie hat jeder Mensch das gleiche Recht auf Repräsentation. Keine Meinung und kein Interesse ist demnach mehr oder weniger wert. In der Praxis gibt es diese Gleichheit faktisch nicht. In sozioökonomisch schwachen Bevölkerungsteilen ist die Wahlbeteiligung niedriger als in anderen Teilen der Bevölkerung und bei den direkten Partizipationsformen – seien es Bürgerbegehren oder Online-Petitionen – sind diejenigen Bevölkerungsteile mit höherer formaler Bildung und größeren ökonomischen Ressourcen stärker vertreten. Diese Unterschiede kann sich eine Demokratie weder normativ noch praktisch erlauben. Auch in der politischen Bildung werden nicht alle Menschen gleichermaßen erreicht. Bestimmte Zielgruppen benötigen aufgrund ihrer besonderen soziodemographischen Charakteristika, ihrer Vorlieben und Abneigungen, der von ihnen bevorzugten Orte, Veranstaltungen, beruflichen Tätigkeiten und Freizeitgewohnheiten ein Instrumentarium, welches über die herkömmlichen in der politischen Bildung zur Verfügung stehenden Lernangebote hinaus geht.
Seit 2007 verfolgt der Fachbereich Politikferne Zielgruppen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) das Ziel, innovative Methoden und Formate zu entwickeln, mit denen vor allem bildungsbenachteiligte Jugendliche, die mit den klassischen Veranstaltungen und Publikationen nicht erreicht werden, erfolgreich angesprochen werden sollen. Im Jahr 2010 ist das Sinus-Institut in einer Studie im Auftrag der bpb dem politischen Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen nachgegangen (Kohl/Seibring 2010) Zu den zentralen Befunden der Studie gehört, dass, entgegen dem verbreiteten Vorurteil, bildungsbenachteiligte Jugendliche durchaus ein politisches Interesse mitbringen, das jedoch häufig „unsichtbar“ bleibt – für die Jugendlichen selbst, wie auch für ihr Umfeld.
Bereits in den Anfängen des Fachbereichs wurde deutlich, dass sich viele Akteur/innen in der politischen Bildung mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen nachhaltige Vernetzungsstrukturen wünschen. Um die zahlreichen positiven Ansätze zu verbreiten und einen Austausch untereinander zu ermöglichen, entstand 2010/11 das interdisziplinäre Netzwerk Verstärker. Für lokale bis bundesweit tätige Vertreter/innen verschiedener Fachrichtungen aus Wissenschaft und Praxis, Pädagogik und Politik, Schule und außerschulischer Jugendarbeit bietet Verstärker eine interdisziplinäre Vernetzungsplattform. Beim ersten Netzwerktreffen im März 2011 arbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam an Zielen, diskutierten über Formen der Zusammenarbeit und erarbeiteten erste Vorschläge zu Arbeitsfeldern des Netzwerks. Diese wurden seitdem in Arbeitsgruppen bearbeitet und die Ergebnisse bei den weiteren jährlich stattfindenden Netzwerktreffen vorgestellt. Dabei wurde auch die immer wiederkehrende Frage nach einer Definition der „bildungsbenachteiligten Zielgruppe“ ausführlich und kritisch diskutiert.
Politische Bildungsarbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen, die damit verbundenen Strukturen, Themen, Methoden und Herausforderungen stehen im Zentrum des Netzwerks. Auch Jugendliche selbst spielen im Netzwerk Verstärker eine zentrale Rolle. Sie werden als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt aktiv in die Netzwerkarbeit eingebunden. Im November 2012 setzten sich bei „Aktion12“ 60 Jugendliche mit Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Angebote der politischen Bildung auseinander. Sie diskutierten Fragestellungen wie: Wann hast du Lust, dich zu beteiligen? Für was setzt du dich ein? Was nervt dich in deinem sozialen Umfeld? Was würdest du machen, wenn du der König oder die Königin von Deutschland wärst? Ihre Wünsche und Forderungen stellten die Jugendlichen mit jugendkulturellen Medien wie Filmen, HipHop, Graffiti etc. dar. Den Abschuss fand die Veranstaltung bei einem gemeinsamen Flashmob am Berliner Hauptbahnhof, bei dem Jugendlichen selbst ihre Ergebnisse im öffentlichen Raum präsentierten – bestaunt, beklatscht und gefilmt von vorbeieilenden Passant/innen,deren Aufmerksamkeit durch die Jugendlichen geweckt wurde. Im Rahmen der Netzwerkarbeit werden die von den Jugendlichen erarbeiteten Kriterien nun weitergetragen und wurden z.B. im Rahmen des Netzwerktreffens 2012 rund 60 Multiplikator/innen vorgestellt.
Ein grundlegendes Anliegen seit den Anfängen des Netzwerks Verstärker ist die gemeinsame Entwicklung von Methoden: Was funktioniert in der Bildungsarbeit mit den Jugendlichen? Wie erhalte ich Zugang zu ihnen? Welche Ansätze und Formate sind ansprechend? Gemeinsam wurde im vergangenen Jahr ein modellhaftes Seminarkonzept entwickelt, welches auf in der Studie „Unsichtbares Politikprogramm?“ (Ebda.) identifizierten Kernthemen des (politischen) Interesses von Jugendlichen basiert: Ehre, Respekt und Anerkennung. Die Themen sollen Ausgangspunkt eines reflexiven politisch-bildnerischen Prozesses sein. Die interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe entwickelte und erprobte ein Konzept, in dem versucht wurde, politische Bildung fernab vom klassischen Seminarsetting neu zu denken.
Ein weiteres Arbeitsfeld war im vergangenen Jahr die Entwicklung einer modularen Fortbildungsreihe, die im Herbst 2013 erstmals beginnen wird. Vielfach formulierten AkteurI/innen aus dem Netzwerk einen konkreten Bedarf an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Teilnehmenden der Fortbildungsreihe sollen zu einer zielgruppengerechten politischen Bildung befähigt werden, die es vor allem bildungsbenachteiligten Jugendlichen ermöglicht, Zugänge zu und Teilhabe an politischen Strukturen und Prozessen zu erlangen.
In 2013 wird sich Verstärker außerdem mit der Erstellung eines Kriterienkatalogs für politische Bildungsarbeit mit bildungsbenachteiligten Zielgruppen befassen, die Nutzung des Web 2.0 in politischen Bildungsprozessen diskutieren und eine zielgruppengerechte Veranstaltung mit Jugendlichen zu den Bundestagswahlen konzipieren und durchführen.
Mittlerweile erreicht das Netzwerk rund 300 Akteur/innen. Davon beteiligen sich rund 60 Multiplikator/innen aktiv an der Weiterentwicklung und Ausgestaltung der operativen Arbeit. Das Besondere dabei ist die interdisziplinäre Zusammensetzung, die es ermöglicht, Fragestellung und Lösungsansätze aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Beim nächsten Netzwerktreffen vom 11. bis 12. November 2013 in Weimar können sich Interessierte selbst von den im Netzwerk entstehenden Synergien überzeugen. Die Arbeit erfolgt bis dahin in kleinen Arbeitsgruppen, die für alle, die an der konkreten Arbeit interessiert sind, offen stehen.
Über die bisherigen Projekte und Ergebnisse können Sie sich unter www.bpb.de/verstaerker sowie auf der Kommunikationsplattform politischebildung.mixxt.de informieren. Wer sich über aktuelle Entwicklungen im Netzwerk informieren möchte oder sich für eine aktive Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe interessiert, kann sich jederzeit an die von der bpb beauftragte Projektleiterin Julia Pfinder wenden. Wir sind gespannt auf die weitere Zusammenarbeit!
Wiebke Kohl, Anne Seibring: „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Band 1138, Bonn 2012. Lesen Sie auch die Rezension in dieser Ausgabe des LaG-Magazins (Link)