Die Publikation gibt wichtige Einblicke in den Stand der interdisziplinären Bearbeitung des Themas. Dabei werden die maßgeblichen Mechanismen durch eine vergleichende Darstellung von Opfer-, (Mit-)Täter- und Fach - bzw. Systemperspektive herausgearbeitet und in den zeithistorischen Kontext der Vor- und Nachkriegsgeschichte eingebettet. Zudem verrät bereits der Titel, dass sich die Autoren, in der Mehrheit Medizinhistoriker und Psychiater, mit ihrer Forschungsarbeit einer gesellschaftlichen Gedenkkultur verpflichtet fühlen. Ihnen lag daran, die sowohl in Deutschland als auch in Österreich "randständige und stigmatisierte Position der psychisch kranken und behinderten Menschen" (S.15) als Verfolgtengruppe der NS-Verbrechen zu durchbrechen. In den Lebensgeschichten des Bandes von Petra Fuchs, Maike Rotzoll und Ulrich Müller wird die Verschränkung von Lebenssituationen und Krankheit der Betroffenen deutlich, die sie in die abgetrennte Welt der Anstaltspsychiatrie führte und von dort schließlich in den gewaltsamen Tod.
Die Anonymisierung der „Euthanasie“-Opfer aufzubrechen, die nicht nur Folge sondern Bestandteil der "Vernichtung selbst" war, lag wohl der Entscheidung des Autorenteams um Fuchs et al. zugrunde, erste Ergebnisse ihres langjährigen Forschungsprojektes zur Auswertung der (nur noch) 300 überlieferten Karteikarten der T4-Aktion in Form einer biografischen Annäherung zu veröffentlichen. Damit gelang es ihnen, nicht nur eine breitere Leserschaft zu erreichen (die zweite Auflage ist bereits auf dem Markt), sondern auch publizistisch Neuland zu betreten. Ein wissenschaftlich-analytischer Band soll in Kürze folgen. Mit den 23 erzählten Lebensgeschichten (S. 99-336), die bis in die Psychiatrie des Kaiserreichs reichen, haben die Autoren einen Perspektivwechsel auf der Basis der Krankenakten und damit der Täterüberlieferung versucht.
Die auffällige Differenz in der Entscheidung über die Erzählzeit - Präsens oder Vergangenheit - ist ein Indiz, das dem Leser verrät, wie bewusst sich die Autoren dabei mit der Problematik der eigenen Perspektive auseinandersetzten, die eine gespaltene ist: Die des einfühlenden und die des quellenkritisch distanzierten Forschers. Die Lebensgeschichten werden gerade dann nachvollziehbar, wenn es den Autoren gelingt, den selbst gewählten Anspruch, "die Patientinnen und Patienten [nicht] in einer simplifizierenden Opfer-Täter-Dichotomie zu zeigen" (S. 19), anschaulich zu unterfüttern und Widersprüche zuzulassen. Hier seien nur zwei Beispiele hervorgehoben: Friedrich L. (geboren 1896), "Ich teile dem Amtsgericht Leipzig mit, dass ich nicht Irrsinnig bin" (S. 191-200), hatte die Kindheit in Armut im Gegensatz zu fünf seiner Geschwister überlebt. Sein weiterer Lebensweg gleicht einer "Verlegungskette" zwischen Fürsorgeerziehungsanstalt, Arbeitshaus und Psychiatrie. Im Jahr 1932 versuchte er mit der freiwilligen Kastration - er war u.a. wegen sexuellen Missbrauchs mehrfach vorbestraft - aus diesem Prozess von Kriminalität, Krankheit und Desintegration herauszufinden. Vergebens, bis zu seiner Ermordung im Februar 1941 wurde er noch in vier weitere Anstalten verlegt. Die Ablehnung seines letzten Entlassungsgesuchs wurde im Jahr 1939 mit angeblich mangelnder Arbeitsfähigkeit begründet. Auch die Geschichte von Therese W., "Zwischen den Welten" (S. 308-336), handelt von vielen vergeblichen Versuchen des "Gesundwerdens". Sie kommt als Fabrikantentochter und Ehefrau eines angesehenen Professors aus einer gänzlich anderen sozialen Realität. Ihre Lebensgeschichte verläuft "im Spannungsfeld von Emanzipation und Unterwerfung unter die zeitgenössischen Rollenerwartungen an Frauen." Sie wurde zum ersten Mal im Jahr 1924 nach einem angekündigten Ausbruchsversuch aus ihrer Ehe auf Betreiben ihres Mannes in die Psychiatrische Klinik Leipzig eingewiesen. Bis zum Jahr 1935 wurde sie ambulant von einem jüdischen Psychiater behandelt. Nach dessen Berufsverbot und Emigration erfolgte ihre erneute stationäre Einweisung. Der Tonfall der Ärzte und die Diagnose in ihrer Krankenakte veränderten sich immer mehr zu ihren Ungunsten. Sechs Jahre später, nach vielen auch von der Familie abgelehnten Entlassungsgesuchen, wurde sie im Februar 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt "Pirna Sonnenstein" ermordet.
Die Unterschiede in den Erzählweisen der Lebensgeschichten, wie Länge, Ausführlichkeit von Personen- und Krankengeschichte, Einbezug von Selbstaussagen der Opfer etc., basieren vor allem auf der Zufälligkeit der Überlieferung. Kaum eine der Krankenakten, die "im Idealfall" aus Personalakte und Krankengeschichte bestehen sollten, ist lückenlos erhalten. Zudem unterlag die Aktenführung sehr unterschiedlichen Konventionen innerhalb der einzelnen Anstalten. Doch, je näher die Überlieferung dem Todesdatum kommt, desto karger, anonymer und aussageloser gestalteten sich die Einträge. Oft gelang es den Autoren, zusätzliche Dokumente in Archiven oder durch Kontakte zu den Familien zu erschließen. Eine Geschichte fällt dabei aus dem rekonstruktiven Erzählmuster heraus: Das Porträt eines Sohnes über den Vater, das sich auf überlieferte persönliche Aufzeichnungen stützen konnte und der Familie nun die Erinnerung an den Ermordeten ermöglicht (S. 105-122).
Der historische und methodische Rahmen wird in fünf einführenden Beiträgen abgesteckt. Maike Rotzoll skizziert die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert (S. 24-35) und stellt diese in den Zusammenhang mit der Programmatik von "Heilen und Vernichten" der NS-Psychiatrie. Unmittelbar daran knüpft Gerrit Hohendorf mit seinem Beitrag "Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen 'Euthanasie' im Überblick" an (S. 36-52). Sehr prägnant und auch für eine mit dem Fachdiskurs nicht vertraute Leserschaft verständlich zeichnet er das Zusammentreffen von "Rassenhygiene und Euthanasie" nach und gibt einen Überblick über die einzelnen Mordaktionen, die unter den Verbrechen der "NS-Euthanasie" subsumiert werden. Petra Fuchs liefert mit ihrer kollektivbiografisch angelegten Studie über die Gruppe der Opfer der "Euthanasie" (S. 53-72) den notwendigen Hintergrund, um die einzelnen Lebensgeschichten hinsichtlich sozialer Lebensrealität, medizinisch-psychiatrischer Diagnostik und der für die Mordselektion entscheidenden Kriterien aufeinander beziehen bzw. miteinander vergleichen zu können. Notwendige methoden- und quellenkritische Hinweise finden sich in den Beiträgen von Paul Richter über "das Spannungsfeld zwischen Einzelfall und Statistik" (S. 73-79) und von Ulrich Müller zu "Krankenakten als Quelle" (S. 80-98).
Auf dem Portal von Lernen aus der Geschichte gibt es außerdem eine Vorstellung des Bandes „..ist uns noch allen lebendig in Erinnerung“, der zehn biografische Portraits von Opfern der „Euthanasie“-Anstalt Pirna-Sonnenstein enthält.