Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Sie schütteln jetzt den Kopf. Sie sind vielleicht sogar angesichts der Überschrift ein wenig empört. Macht nichts, das bin ich gewöhnt. Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, warum ich dieser Auffassung bin. Doch zunächst gebe ich einen kurzen Überblick über die Gedenkstätte Hadamar und ihre normale Arbeitsweise. Dann werde ich über die Arbeit mit theaterpädagogischen Methoden in Hadamar berichten.
Die Gedenkstätte Hadamar gehörte während der NS-Zeit zu einer der sechs Euthanasietötungsanstalten. In der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar fanden zwischen 1941 und 1945 ca. 15.000 Menschen im Rahmen des NS-„Euthanasie“-Programms gewaltsam den Tod. In der 1983 eröffneten Gedenkstätte sind die ehemalige Busgarage, die ehemalige Gaskammer, der Sezierraum mit originalem Seziertisch, der Standort der Krematorien und der Friedhof, auf dem sich Massengräber befinden erhalten. Außerdem gibt es Ausstellungs- und Arbeitsräume. Seit 1991 bieten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleitete Rundgänge durch die Gedenkstätte an. Studientage, die neben dem Kennenlernen des historischen Ortes die Möglichkeiten zu aktuellen Diskussionen wie z.B. den Umgang mit behinderten Menschen heute, Pränataldiagnostik oder Präimplantationsdiagnostik (PID) möglich machen, sind das zweite Standbein des pädagogischen Angebots. Auch Seminarangebote zu anderen Themen im Kontext des Nationalsozialismus finden statt. Filmveranstaltungen, Sonderausstellungen und besondere kulturelle Veranstaltungen zu Gedenktagen runden das Angebot ab. Die Gedenkstätte Hadamar versteht sich als Ort der historisch-politischen Bildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Besonderes Augenmerk legt die Gedenkstätte auf die Anleitung ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch bei kürzeren Führungen durch die Gedenkstätte wird versucht, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit ein zu beziehen. Dies geschieht u.a. durch das Vorstellen von Opfer- oder Täterbiografien in Form von Fotokarten mit lebensgeschichtlichen Erläuterungen.
Als eine außergewöhnliche Besuchergruppe hat die Gedenkstätte Hadamar Kinder ab neun Jahren im Blick. In der Arbeit mit Grundschulkindern kann ich inzwischen auf zehn Jahre Erfahrung zurückblicken. Gerade für diese Zielgruppe war die Suche nach ungewöhnlichen Methoden von zentraler Bedeutung. Allerdings ist diese Suche nach neuen pädagogischen Wegen in der historisch-politischen Bildung nicht nur für Kinder, sondern für Zielgruppen aller Altersstufen von Bedeutung.
Hartmut von Hentig sagte einmal: "Das Theaterspiel ist eines der machtvollsten Bildungsmittel die wir haben." (Hentig, 117ff) Mit keinem anderen Medium können wir uns in Menschen und deren Geschichten so intensiv hinein versetzten, wie im Theaterspiel. In dem wir uns bemühen einen anderen Menschen darzustellen, befinden wir uns auf dem Weg, die eigene Persönlichkeit zu erweitern.
Hentigs Aussage ist für mich das Leitmotiv, mit theaterpädagogischen Zugängen in der Gedenkstätte Hadamar zu arbeiten. Je intensiver ich diesen Weg beschreite, desto deutlicher lassen sich die Lernerfolge sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ablesen. Lernerfolge im Sinne von:
Wenn in einer NS-Gedenkstätte mit theaterpädagogischen Methoden gearbeitet wird, heißt das auch, das Theaterspiel als eine Form der Erinnerungsarbeit anzusehen. George Tabori sagte einmal: "Unmöglich ist es, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne dass man sie mit Haut, Nase, Zunge, Hintern, Füßen und Bauch wieder erlebt hat." (Tabori, 33)
Tabori verstand das Theater als Lernprozess. Lernen im Dialog ist eine seiner Maximen. Er knüpfte hier an menschliche Stärken und Schwächen an. Er integrierte Lehren und Lernen. Taboris Weg ist der, den auch die Reformpädagogik beschreitet: Ein Weg, sich selbst zu finden und zu wachsen. Und dieses Wachstum ist ein Prozess, der Zeit braucht, um Haltungen zu erwerben, um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit voranzutreiben. All dies ist somit eine pädagogische Verfahrenserweiterung.
Theaterpädagogische Methoden als Handwerkszeug für Gedenkstättenpädagoginnen und -pädagogen sind eine Bereicherung nicht nur für die Teilnehmenden an Führungen und Seminaren, sondern auch für die Pädagoginnen und Pädagogen selbst. Dies kann u.a. durch Folgendes geschehen:
Alle diese Elemente geben einem Besuch in der Gedenkstätte eine konzentrierte und intensive Arbeitsatmosphäre. Das erleichtert Lernen und macht Spaß. Darüber hinaus werden Phantasie und Kreativität der Teilnehmenden angeregt. Viele Besucherinnen und Besucher jeglichen Alters machen im Umgang mit theaterpädagogischen Methoden das erste Mal die Erfahrung, dass sie in der Lage sind zu spielen. Derartige Methoden helfen dabei das Interesse an politischen und historischen Ereignissen zu wecken und zu erfahren, dass Politik etwas mit mir zu tun hat und nicht ausschließlich Politikerinnen und Politikern oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern obliegt. Diese Methoden erleichtern auch den Zugang speziell zu den NS-Euthanasie-Verbrechen und den aktuellen Fragestellungen in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen.
NS-Gedenkstätten sind Räume theatraler Gestaltung. Sie sind durch ihre Inszenierung der historischen Räume oder gar der künstlerischen Gestaltung Orte, die für das Theaterspiel prädestiniert sind.
Mit Blick auf die Besucherinnen und Besucher heißt das: Theaterpädagogik fördert und entwickelt Körperbewusstsein und ein Gefühl für Präsenz und Spannung, den Gebrauch der eigenen Stimme, ein intuitives/imaginatives Gespür und den bewussten Umgang mit Raum und Zeit, also die dramatische, theatrale Ausdrucksfähigkeit.
Theaterpädagogisches Arbeiten in NS-Gedenkstätten verhilft den Besucherinnen und Besuchern zu persönlichen und künstlerischen Erfahrungen. Mit Hilfe theaterpädagogischer Methoden gelingt es, abstrakte historische Ereignisse in Handlungszusammenhängen sichtbar zu machen.
Literatur:
Hentig, Hartmut von: Bildung, München 1996.
Tabori, George: zit. Nach: Guerrero, Chantal: George Tabori im Spiegel der deutschsprachigen Kritik. Theaterwissenschaft 3, Köln 1999.