Von Dorothee Ahlers
Die Nationalsozialisten hatten für die Reichshauptstadt Berlin Monumentalplanungen vorgesehen, die bis in das Jahr 1950 hinein reichen und das Gesicht der Stadt grundlegend verändern sollten. Diese umfassenden Planungen machen deutlich, welch großer Stellenwert der Architektur im Dritten Reich zugemessen wurde; ihre Allgegenwärtigkeit machte sie zu einem wirksamen Instrument nationalsozialistischer Propaganda. Die Verquickung der Bautätigkeit mit Industrie, Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit und dem Holocaust macht sie außerdem zu einem spannenden Teil der NS-Geschichte.
Die Autoren Hans J. Reichhardt und Wolfgang Schäche zeigen in ihrem Überblickswerk „Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörungen der „Reichshauptstadt“ durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen“ die sozialen und politischen Hintergründe auf. Begleitet von vielen historischen Fotos aus der umgebauten Hauptstadt und zeitgenössischen Dokumenten verdeutlichen sie stets die politische Funktion der architektonischen Veränderungen und grenzen sich bewusst ab von früheren Arbeiten, die sich häufig entkontextualisiert auf den Kunstwert der nationalsozialistischen Bautätigkeit konzentriert hatten. Als Gegenentwurf dazu fordern die Autoren, dass die „baulichen Ausdrucksformen und Manifestationen [des Nationalsozialismus] niemals vergessen gemacht, sondern [...] stets von Neuem zur Diskussion gestellt werden“ (S. 22) müssen. Der 2008 neu erschienene Band ist eine überarbeitete und erweiterte Ausgabe des Katalogs einer Ausstellung von 1984/85, die im Landesarchiv Berlin Material aus bis dahin verschollenen Akten aus der ehemaligen Reichsbehörde des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ präsentierte.
Das Kernstück des Bandes bildet eine Erläuterung der Neugestaltung Berlins, die Hitler bereits in den zwanziger Jahren projektiert hatte und die ab 1938 bis in das Kriegsjahr 1943 hinein umgesetzt wurde. Mit Hilfe zahlreicher zeitgenössischer Pläne und Modelle verdeutlichen Reichhardt und Schäche den geplanten Umbau der Stadt entlang eines Achsenkreuzes zweier Straßen. Die Nord-Süd-Achse war als totale Neuanlage vorgesehen, deren Mittelabschnitt für Staats- und Repräsentationsgebäude bestimmt war und den Abriss mehrerer Stadtviertel bedeutet hätte. Am Brandenburger Tor hätte die Ost-West-Achse die neue Anlage gekreuzt. Beide Straßen sollten in einer Ringstraße enden, die auch heute noch die Stadtgrenze von Berlin bildet, von Radialstraßen durchzogen werden und den Bau eines neuen Eisenbahnnetzes einschließen.
Begleitet wird der dokumentarische Teil von Kapiteln, die die zeitlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie die Folgen der Umbauten, wie Zerstörungen, Enteignung von Juden und Jüdinnen und den Einsatz von Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen verdeutlichen.
Die Autoren betonen dabei, dass die Machtergreifung auch in der Architektur nicht als voraussetzungslose Zäsur verstanden werden kann, sondern die nationalsozialistischen Monumentalbauten in ihrer zu Anfang noch vorhandenen realen Zweckbestimmung an die baulichen Arbeiten der zwanziger Jahre anknüpften. Erst mit der politischen Konsolidierung sollte auch die Architektur ihre systemstabilisierende Funktion einnehmen. Die Monumentalbauten verfügten nun über keinen praktischen Gebrauchswert mehr, sondern waren als Machtdemonstration nur noch „Kulissen des öffentlichen Raumes […] zur permanenten Inszenierung des Macht- und Herrschaftsanspruches“ (S. 46). Dabei zeigt sich auch die (ökonomische) Austauschbeziehung zwischen staatlicher Bautätigkeit und Industrie, die ihren Höhepunkt fand in der Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie. Die Zerstörungen des Krieges interpretieren die Autoren dann als eine Fortsetzung der bereits begonnenen Zerstörungen für den Umbau der Städte.
Die einander bedingende politische und ökonomische Entwicklung und das Zusammenspiel zwischen Bau- und Rüstungsindustrie verdeutlichen die Autoren ebenfalls in einem Kapitel über die Geschichte und den Aufbau der staatlichen Planungsbehörde „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin“ (G.B.I.), das mit zahlreichen ganzseitigen Dokumenten ausgestattet ist.
Parallel zum Beginn der Bauten 1938 wurde auch mit dem Abriss bestehender Bebauung begonnen, der etwa 52.000 Wohnungen zum Opfer fallen sollten. Der neu entstandene Wohnungsbedarf wirkte sodann auch als Vorwand, um tausende Juden und Jüdinnen aus ihren Wohnungen zu vertreiben und zu enteignen, so dass die Autoren schließen, dass „der G.B.I. als einer der Hauptbeteiligten bei der Vertreibung der Berliner Juden angesehen werden“ (S. 178) muss. Weitere Kapitel thematisieren den Einsatz von Zwangsarbeitern, sowie die Problematik der Baumaterialien und Finanzierung. Abgerundet wird der Band durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis.
Alles in allem ist „Von Berlin nach Germania“ ein faktenreiches, aber allgemeinverständliches Standardwerk über die nationalsozialistische Stadtplanung für Berlin. Es gelingt den Autoren, den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext zu verdeutlichen und stellt somit einen spannenden Teil der NS-Geschichte übersichtlich dar. Für Pädagoginnen und Pädagogen kann das Buch als Anregung und Hintergrundwissen dienen, um ein weniger beachtetes Thema der NS-Geschichte zu behandeln, das den Vorteil bietet, das es sehr konkret im heutigen Stadtraum untersucht werden kann. Die zahlreichen zeitgenössischen Fotos, Karten und Dokumente stellen eine umfangreiche Materialsammlung dar. Irritierend ist allerdings der moralisierende Ton, wenn Reichhardt und Schäche anklagen, dass „die geplanten Bauten Hitlers und Speers der Stadt und ihrer Identität schmerzlichere Zerstörungen zugefügt hätten als der Bombenhagel des Krieges“ (S. 69), eine Haltung, die sich bereits in dem Titel des Buches „Über die Zerstörungen...“ andeutet. Häufige Verwendung von distanzierenden Anführungszeichen für nationalsozialistische Begriffe oder ironische Anmerkungen stören den an sich sachlichen Charakter des Buches.
Auch hätte man dem Verlag eine glücklichere Hand bei der Gestaltung des Umschlages gewünscht; die Verwendung der NS-Farben rot und weiß und die irritierende Kombination eines Bildes der „Großen Halle“ und des kriegszerstörten Berlins 1945 stehen auf der einen Seite der ansonsten bewusst negativ-wertenden Haltung der Autoren gegenüber der NS-Architektur gegenüber, irritieren auf der anderen Seite aber aufgrund des unklaren Zusammenhangs zwischen der Hitlerschen Architektur und dem durch den Krieg zerstörten Berlin.
Wenn man jedoch über derartige Schwächen hinweg sieht, bietet der Band einen spannenden Überblick über die Speerschen Planungen für Berlin, der sich nicht nur auf die Architektur konzentriert, sondern ihre politischen Rahmenbedingungen und sozialen Folgen deutlich macht.
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- 19/09/2011 - 14:02