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Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Feliks Tych, Alfons Kenkmann, Elisabeth Kohlhaas, Andreas Eberhardt (Hg.): Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948, Berlin 2008, 19€.
Von Markus Nesselrodt

Im Sommer 1945 startete die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen ein einzigartiges Projekt. Sie arbeitete Richtlinien aus, nach denen Kinder, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entkommen waren, zu ihren Erlebnissen im Krieg befragt werden sollten. Diese dokumentierten Interviews stellen einen Fundus für die Holocaustforschung dar, der seit einiger Zeit auch in deutscher Sprache für die Bildungsarbeit und Wissenschaft zugänglich ist.

Die Gespräche wurden von Pädagog/innen geführt und beabsichtigten weniger die Rekonstruktion historischer Vorgänge als vielmehr, die Gefühle und Eindrücke der jungen Menschen festzuhalten. Das Buch „Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948“ versammelt nun eine Auswahl von 55 ungekürzten Berichten jüdischer Kinder, die ursprünglich in polnischer, jiddischer oder deutscher Sprache aufgezeichnet wurden.

„Weshalb Kinder?“ fragt der renommierte polnische Historiker Feliks Tych in seinem Vorwort. Weil nur so wenige von ihnen die nationalsozialistischen Vernichtung überlebt haben. Für Tych stellt der Kindermord die „Quintessenz dessen [dar], was wir Holocaust nennen“ (S. 9), denn er verdeutliche das ungeheure Menschheitsverbrechen, ein ganzes Volk ausrotten zu wollen. Proportional überlebten weniger Kinder als Erwachsene, da es letzteren in der Regel besser gelang, sich zu verstecken und zu wehren. Dass den Kindern bewusst war, was ihnen bevorstand, belegen zahlreiche schriftliche Dokumente, die oft unter Zeitdruck und in wackeliger Handschrift verfasst wurden. So schrieb die kleine Juneta aus Szawle (heute Litauen) an ihren Vater: „Lieber Papa! Ich verabschiede mich von dir, bevor ich in den Tod gehe. Wir würden so gern leben, aber es geht nicht. Man lässt uns nicht. Ich habe solche Angst vor dem Tod; denn kleine Kinder wirft man lebendig ins Grab. Leb wohl für immer. Ich umarme dich ganz lieb. Deine Juneta“.

Ein weiterer Grund für die Wahl der Kinderperspektive sei laut Tych gewesen, dass sie selbst ihre Stimme erheben sollten, um Zeugnis von ihren Erlebnissen abzulegen. Und nicht zuletzt handele es sich bei den jüdischen Kindern um eine besondere Gruppe von Zeugen, die noch weitgehend unbelastet von Vorbehalten gegenüber nichtjüdischen Menschen gewesen sei. All dies mache die Interviewprotokolle zu glaubwürdigen und kaum durch die Zeit verformten Dokumenten über den Holocaust. Dem eigentlichen Herzstück des Buches mit den Interviewprotokollen geht jedoch zunächst ein Teil mit historischen Aufsätzen voraus, welche die „Überlebenswege und Identitätsbrüche jüdischer Kinder in Polen im Zweiten Weltkrieg“ thematisieren. Die Autor/innen Alfons Kenkmann und Elisabeth Kohlhaas von der Universität Leipzig beschreiben, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise es Kindern gelang, zu überleben. Anschließend gehen sie genauer auf die Entstehungsbedingungen der Interviewprotokolle ein: Die Ende 1944 gegründete Zentrale Jüdische Historische Kommission verfolgte das Ziel, Zeugenaussagen von Holocaustüberlebenden – Erwachsenen wie auch Kindern – zu dokumentieren. Die entstandenen Selbstzeugnisse lagern heute im Warschauer Jüdischen Historischen Institut und stellen die Grundlage der hier vorliegenden ausgewählten 55 Interviewprotokolle dar.

Die Protokolle sind auf zweierlei Arten entstanden. Zum einen handelt es sich um schriftliche Berichte, die eigenhändig von den Zeugen verfasst wurden; und zum anderen um Protokolle, die von den Interviewer/innen nach dem Gespräch angefertigt wurden. Die Entstehungsbedingungen wirkten sich selbstverständlich auf die vorliegenden Texte aus. So ist der Stil teilweise telegrammartig und sprunghaft, an anderer Stelle ist die Narration dagegen flüssiger. Die Dokumente geben Auskunft über Verstecke, über die Hilfe von nichtjüdischen Polen, über die Verfolgung durch die Deutschen und ihre Helfer sowie über das Leben der Kinder vor dem deutschen Überfall auf Polen.

Ergänzt werden die oft recht voraussetzungsreichen Protokolle durch kontextualisierende Anmerkungen sowie einen umfangreichen Anhang. Dieser umfasst den eingangs erwähnten Interview-Leitfaden, an dem sich die Gesprächsführer/innen zu orientieren hatten. Ferner den eigentlichen Fragebogen, der wiederum die konkreten Fragen über die deutsche Besatzung, die Zeit in den Ghettos, in Lagern und/oder Gefängnissen, die eventuelle Beteiligung der Kinder an der Partisanenbewegung und das Leben unter „Ariern“. Aus den im Band abgedruckten Protokollen wird allerdings ersichtlich, dass nicht jeder Bericht Antworten auf alle im Fragebogen gestellten Fragen beinhaltet. Dies sei aus verschiedenen Gründen wie fehlender Zeit, mangelhafter Erinnerung oder auch einfach Unwissen nicht immer möglich gewesen, so die editorische Notiz. Der Anhang enthält zusätzlich noch zwei Landkarten Polens von August 1939 und der Zeit der deutschen Besatzung. Eher Anschauungswert haben die Faksimiles der Originalprotokolle in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache. Abgerundet wird der Anhang schließlich durch ein hilfreiches Glossar mit kurzen Informationen zu zeitgenössischen Bezeichnungen und Orten im besetzten Polen.

Der vorgestellte Quellenband stellt eine außergewöhnliche Publikation dar. Er ermöglicht dem deutschsprachigen Publikum einen Einblick in bisher unbekanntes Material von hohem Informationsgehalt. Die Protokolle verlangen allerdings eine pädagogische Kontextualisierung, um sie in der Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen verwenden zu können. Hilfreich dabei ist der begleitende Band "Vor Tieren hatten wir keine Angst, nur vor Menschen" (Münster 2009), der didaktische Materialien enthält. Er kann für 5€ bei der Villa ten Hompel Münster erworben werden.

 

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