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Zur Bedeutung der Opfer-Zeugen im ersten Frankfurter Auschwitz Prozess (1963-1965)

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dagi Knellessen ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet als freie Bildungsreferentin in Berlin

Dagi Knellessen

Der Zeugenbeweis vor Gericht ist das unzuverlässigste Beweismittel überhaupt. Dieser Konsens gilt unter Juristen heute ebenso selbstverständlich wie zur Zeit des Auschwitz-Prozesses. Dennoch wurden im größten Prozess der bundesdeutschen Justizgeschichte 211 Überlebende von Auschwitz als Zeugen geladen. Welche Bedeutung hatten ihre Aussagen im Prozess und welche Rolle spielten sie generell in diesem gigantischen NSG-Verfahren (nationalsozialistische Gewaltverbrechen)? Und last but not least, was sagen die Berichte der Zeugen heute fast 50 Jahre nach dem Prozessgeschehen noch aus?

Vorab einige Eckdaten zur geschichtspolitischen Einordnung: Der Auschwitz-Prozess (20. Dezember 1963 – 20. August 1965) war der größte öffentlichkeitswirksame NS-Prozess in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Das Verfahren durchbrach die Strafverfolgungslethargie, die seit Gründung der Bundesrepublik geherrscht hatte, und dazu führte, dass die Ahndung von NS-Verbrechen fast vollständig ausgesetzt worden war. Zwei Jahre nachdem der Eichmann-Prozess in Jerusalem die internationale Aufmerksamkeit auf den Holocaust gelenkt hatte, war nun die deutsche und internationale Öffentlichkeit praktisch mit dem gesamten Terror- und Mordregime des Vernichtungslagers Auschwitz konfrontiert. Vor Gericht standen 21 ganz „normale“ Bundesbürger, die angeklagt waren, als einstige Angehörige der Konzentrationslager-SS unzählige Mordverbrechen begangen zu haben. Ähnlich wie in Jerusalem war auch in diesem Lehrstück zur jüngsten Vergangenheit der drastische Gegensatz zu beobachten zwischen den dramatischen Aussagen der 211 Opferzeugen und der starrsinnig-apologetischen Grundhaltung der Täter. Der Auschwitz-Prozess gilt als Wendepunkt, denn er bewirkte langfristig eine gesellschaftliche und politische Zäsur im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und in der Wahrnehmung des Holocaust. Seine umfangreiche Rezeption in Literatur, Publizistik, Philosophie und am Theater war der Beginn einer Auseinandersetzung, die zuvor in der bundesdeutschen Gesellschaft mehrheitlich verweigert worden war.

Um nun die Rolle der Opferzeugen und die Bedeutung ihrer Aussagen in diesem Prozess zu verstehen, müssen wir uns den juristischen Grundlagen zuwenden: dem deutschen Strafprozessrecht. Hier geht es grundsätzlich immer um den Nachweis der individuellen Tatbeteiligung und Schuld der Angeklagten, d.h. auch die Mitwirkung an einem staatlich legitimierten Massenverbrechen wird wie ein kriminelles Einzeldelikt behandelt. Der Straftatbestand lautet Mord nach §211 (Strafgesetzbuch) oder Beihilfe zum Mord, wobei der Rahmen des Massenverbrechens und das Verhalten des Einzelnen genauestens zu erfassen ist, um das Ausmaß einer schuldhaften Beteiligung be- und verurteilen zu können. Im Falle des Auschwitz-Prozesses, der sich gegen die Täter vor Ort richtete, lagen über die Mitwirkung der Täter, die am Vernichtungsprozess beteiligt waren oder die im willkürlichen Allmachtsrausch so genannte Exzesstaten begangen hatten, so gut wie keine Dokumente vor. Folglich war die Staatsanwaltschaft vom Stadium der Ermittlungen, über das Verfassen konkreter Tatvorwürfe in der Anklageschrift bis hin zur Beweisführung im Prozess auf die Aussagen der Überlebenden angewiesen.

Damit unterschied sich der Auschwitz-Prozess deutlich von der juristischen Verhandlungsgrundlage der beiden Prozesse, die bis dato das Bild der NS-Massenverbrechen geprägt hatten: dem Nürnberger Prozess gegen Angehörige der NS-Funktionselite und dem Jerusalemer Prozess gegen den administrativen Täter Adolf Eichmann. In beiden Fällen wurde die Beteiligung der Angeklagten am Massenmord in den deutlich weiter gefassten Straftatbeständen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bzw. „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ eingeordnet, die sich im Wesentlichen anhand von Dokumenten belegen und auch verurteilen ließen.

Im Auschwitz-Prozess hingegen war bereits die Vorgeschichte des Verfahrens im Jahre 1958 zu einem erheblichen Anteil von Auschwitz-Überlebenden in Gang gesetzt worden. Was das weitere Zustandekommen des Prozesses angeht, so sind zwei Protagonisten zu nennen: der Wiener Publizist und Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein, der damals dem Internationalen Auschwitz-Komitee (IAK) vorstand und der hessische Generalstaatsanwalt und jüdische Remigrant Fritz Bauer. Auf Bauers Initiative hin hatte die Frankfurter Staatsanwaltschaft ab 1959 die Ermittlungen zum Gesamtkomplex Auschwitz übernommen, woraufhin sogleich die aufwendige Suche nach Zeugen einsetzte, die in der ganzen Welt verstreut waren. Langbein, der seit Jahren mit der Dokumentation der Vorgänge in Auschwitz befasst war und internationale Korrespondenzen mit Überlebenden führte, unterstützte die Frankfurter Ermittler unermüdlich und vermittelte eine Vielzahl entscheidender Zeugenkontakte. Insgesamt wurden im Vorfeld des Prozesses an die 800 Überlebende aus Westeuropa, Israel, Übersee und den Ostblockstaaten ausfindig gemacht und überwiegend auch in diesen Ländern vernommen.

Im Prozess traten dann im Rahmen der Beweisaufnahme 211 Überlebende des Vernichtungslagers in den Zeugenstand, die aus 18 Ländern angereist waren. Allein das internationale Auftreten der Zeugen hatte jenseits der juristischen Beweiskraft hoch symbolischen Charakter, zeigte es doch die grenzüberschreitende Dimension des NS-Massenverbrechens auf. Die Wirkmächtigkeit der Aussagen von Opferzeugen hatte zwei Jahre zuvor der Eichmann-Prozess deutlich gemacht. Der Frankfurter Prozess, der unbedingt in der Folge dieser internationalen medialen Präsenz zu sehen und einzuordnen ist, unterschied sich jedoch im Hinblick auf die Zeugen in zwei Punkten: erstens in der Zusammensetzung der Opferzeugen und zweitens in der Funktion ihrer Aussagen.

Was die Zusammensetzung der Zeugengruppe anbetrifft, so sagten im Auschwitz Prozess jüdische und nicht-jüdische Überlebende aus, da Auschwitz von 1940 bis Mitte 1942 ein Lager für vorwiegend nicht-jüdische, politisch verfolgte Polen war. Zudem war ungefähr die Hälfte der Zeugen (jüdische wie nicht-jüdische) aus Staaten des Warschauer-Pakts (Polen, Tschechoslowakei, Sowjetunion, DDR) angereist. Damit war das Frankfurter Prozessgeschehen teils massiv durch den Hintergrund des Kalten Krieges bestimmt. Die osteuropäischen Zeugen waren zusätzlich zu der psychischen Extrembelastung der Aussage den - teils unverschämten - Angriffen ideologischer Scharfmacher wie Hans Laternser ausgesetzt, einem seit den Nürnberger Prozessen bekannten Verteidiger.

Die Zeugenvernehmungen hatten entsprechend der juristischen Vorgaben die Funktion, die individuelle Tatbeteiligung der Angeklagten zu bezeugen, sprich den Tathergang minutiös zu schildern. Ganz anders als im Jerusalemer Verhandlungsgeschehen, wo die Überlebenden überwiegend dazu aufgerufen waren, vor den Prozessbeteiligten, Israel und der Welt ihre Erfahrungen von Verfolgung, Entrechtung, Gettoisierung, Deportation und Massenmord schonungslos bloß zu legen, waren die Zeugen in Frankfurt während ihrer Aussage juristisch relevanten Verwertungskriterien unterworfen: wann, wo, wie sich eine Tat unter welchen Umständen abgespielt hatte. Fragen, die, an dem für die meisten Häftlinge zeit- und orientierungslosen Ort Auschwitz, kaum zu beantworten waren und zugleich durch ihre Absurdität die Grenzen des juristisch Fassbaren allzu deutlich machten.

Dennoch ließen viele der Opferzeugen die Ungeheuerlichkeit ihrer Erfahrungen in Auschwitz nicht auf einen einzelnen Straftatbestand reduzieren und rissen die Prozessbeteiligten in einem persönlich gesetzten Akt des Bezeugens gewissermaßen mit in ihre Erzählung. Diese spannungsvolle Dynamik lässt sich bis heute anhand der einzigartigen Quelle zum Prozessgeschehen, den Tonbandaufzeichnungen nachvollziehen. Die Überlebenden von Auschwitz hatten sich damit neben der psychischen Last, die mit der Aussage verbunden war, ein Forum geschaffen, den unbekannten Ort Auschwitz und die präzedenzlose Tortur, die sie erlebt und erlitten hatten im Sinn einer Dokumentationspflicht gegenüber den Ermordeten und gegenüber sich selbst zu vermitteln. Als Anfang Mai 1965 die Beweisaufnahme geschlossen wurde, hatten die Zeugen mit der Bandbreite ihrer Aussagen, die Hannah Arendt als „Momente der Wahrheit“ beschrieb, der deutschen und internationalen Öffentlichkeit ein umfassendes Bild von Auschwitz vermittelt.

Im August wurde das Urteil gesprochen, das überwiegend als zu milde rezipiert wurde: Sechs der Angeklagten erhielten lebenslange Haft, elf Zeitstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren, drei Angeklagte sprach das Gericht frei. Keiner von ihnen hatte während des gesamten Prozesses ein „menschliches Wort“ gegenüber den Zeugen hervor gebracht, wie es sich Fritz Bauer erhofft hatte. Im Gegenteil, sie alle blieben unisono in ihrem selbstbewusst inszenierten apologetischen Selbstbild verhaftet und trugen insgesamt „zur Aufklärung nur sehr wenig bei (...). Das Gericht war somit bei der Aufklärung der von den Angeklagten begangenen Verbrechen fast ausschließlich auf Zeugenaussagen angewiesen.“ (Balzer / Renz, Das Urteil, S. 99)“. So lautet die eindeutige Bewertung der Richter im Urteil.

Jenseits der zeitgenössischen Bedeutung haben die Aussagen der Zeugen bis heute nichts an Eindringlichkeit eingebüßt. Eingebettet in den Kontext des juristischen Prozederes verdeutlichen sie das Selbstverständnis der Überlebenden, die persönliche Erfahrung als Teil des katastrophalen Massenverbrechens zu begreifen, um dessen geschichtspolitische Anerkennung es zu ringen galt. Dennoch wird das Auftreten der Opferzeugen bislang fast ausschließlich unter dem Aspekt der emotionalen Belastung und Retraumatisierung thematisiert, der sich die Überlebenden mit ihrer Aussage im Land der Täter zweifellos aussetzten. Vernachlässigt wird ihre tragende Rolle in der Ahndung von NS-Verbrechen insgesamt, die von der Anzeige über die Ermittlung bis zur Beteiligung als Zeuge im Prozess reichte. In der Hochphase des Kalten Kriegs repräsentierten die Opferzeugen eine internationale grenzüberschreitende Gruppe, die als geschichtspolitische Akteure (vgl. Stengl, Opfer als Akteure, S. 11) eine erste Form transnationaler Zeugenschaft praktizierten.

Weiterführende Literatur

Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation. 2 Bd., Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1995

Gerhard Werle, Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München: C.H. Beck Verlag, 1995

Andreas Wirsching, Jürgen Finger, Sven Keller, Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2009

Fritz Bauer Institut (Hg.), Ausstellungskatalog Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud Wojak, Köln: Snoeck, 2004

Fritz Bauer Institut (Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Katharina Stengel, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, 2008

Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt, Berlin: Philo Verlag, 2004

Friedrich-Martin Balzer, Werner Renz (Hg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag, 2004

DVD-ROM

Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hg.), Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente, Berlin: Directmedia Verlag, 2004

Unter Download finden Sie eine ergänzende Chronologie der Zeugenaussagen im Auschwitz-Prozess, zusammengestellt von der Autorin.

 

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