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Riskantes Lernen: Moralische Erwartungen und der Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und Holocaust

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Wolfgang Meseth ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe Universität Frankfurt. Er lehrt und forscht zu: Theorien der Erziehung und Bildung, Erziehungswissenschaftliche Interaktions- und Unterrichtsforschung,  Erinnerungspädagogik, politisch-moralische Erziehung in schulischen und außerschulischen Lernkontexten. Professor Dr. Matthias Proske lehrt und forscht mit den Schwerpunkten Schul- und Unterrichtsforschung im Bereich der Sekundarstufe I, Lehrer/innenbildung sowie politisch-historisches Lernen und Erinnerungspädagogik am Institut für Allgemeine Didaktik und Schulforschung der Universität zu Köln.

Von Wolfgang Meseth und Matthias Proske

Dass die schulische und außerschulische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Massenmord an den europäischen Juden und anderen Bevölkerungsgruppen nicht nur auf das bloße Lernen historischer Daten, Hintergründe und Zusammenhänge zielt, scheint unmittelbar einleuchtend. Mündigkeit, Autonomie und Urteilsbildung gehören zu den konstitutiven Aufgabenstellungen und Zielsetzungen moderner Pädagogik, die seit und mit Theodor W. Adornos berühmtem Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ auch für den pädagogischen Umgang mit der NS-Geschichte in Geltung sind. Es gehört zum erinnerungspädagogischen common sense, dass es im Geschichtsunterricht oder in Führungen an Erinnerungs- und Gedenkorten immer auch darum gehe, die Schüler/innen bzw. Teilnehmer/innen pädagogisch so anzusprechen, dass die moralische Verurteilung der nationalsozialistischen Ausschließungen, Deportationen und Morde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eigenständiges Urteil selbst mit vollzogen wird, dass also das Lernen aus der Geschichte auch die historisch-moralische Urteilsbildung der Lernenden erreicht. Lernen im Themenfeld Nationalsozialismus und Holocaust müsse in diesem Sinne immer historisches und moralisches Lernen sein. Während sich historisches Lernen an der Leitfrage „Was ist unter welchen Voraussetzungen wie und warum geschehen?“ orientiert, ist moralischem Lernen die Frage unterlegt „Wie beurteile ich das historische Geschehen auf der Folie moralischer Kriterien wie Schuld, Verantwortung und Achtung und mit Blick auf mögliche moralische Konflikte in der Gegenwart?“.

Die Moralisierung der NS-Geschichte als pädagogische Herausforderung

Geschichtsdidaktisch wird diese Doppelbestimmung der Erinnerungspädagogik als historisches und als moralisches Lernen ambivalent diskutiert. Einerseits warnt etwa Gerhard Henke-Bockschatz (2004), dass die moralische Überhöhung von Themen des Geschichtsunterrichts den differenzierten Zugang zu eben diesen eher verstelle als ermögliche. Reflektiertes Geschichtsbewusstsein bestünde angesichts der öffentlichen Moralisierung der NS-Geschichte entsprechend darin, zu dieser auf Distanz gehen zu können und die jeweiligen Perspektiven der (auch moralischen) Indienstnahme von Geschichte zu verstehen. Andererseits sieht die Geschichtsdidaktik die Aufgabe des Geschichtsunterrichts durchaus in der Vermittlung derjenigen Kompetenzen, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, Werturteile über die Vergangenheit und die historische Selbstverortung einer Gesellschaft bzw. Nation eigenständig nachzuvollziehen und selbst fällen zu können, wie etwa Jörn Rüsen formuliert (1997).

Angesichts dieser abwägenden geschichtsdidaktischen Reflexion historisch-moralischen Lernens erscheint es überraschend, dass bislang wenig empirische Erkenntnisse darüber vorliegen, wie unter Bedingungen von Unterricht die moralische Bedeutung der Themen Nationalsozialismus und Holocaust in der Schulklasse verhandelt wird: Wie macht sich die moralische Bedeutung dieser Themen im Unterricht bemerkbar? Was geschieht, wenn Erwartungen einer moralischen Positionierung formuliert oder unterlaufen werden? Welche Bedeutung hat der Kontext Schulklasse für moralische Positionierungen in diesem Themenfeld? Mit welchen Risiken muss das historisch-moralische Lernen in der Schule rechnen?

Geschichtsunterricht, Urteilsbildung und das Thema Nationalsozialismus als Gegenstand empirischer Forschung

Will man diese Fragen empirisch untersuchen, sind zwei zentrale Aspekte zu berücksichtigen:

  • Zum einen ist der Besonderheit des Themenfeldes Nationalsozialismus und Holocaust als Lerngegenstand Rechnung zu tragen. Schüler/innen sind bei diesem Thema keineswegs unbeschriebene Blätter. Sie besitzen – vermittelt über Medien, Familie, peers oder vergangene Unterrichtseinheiten – bereits Vorwissen, das zwar sachlich nicht gefestigt und reflektiert sein muss, dennoch aber – zumindest implizit – Kenntnisse über die öffentlich anerkannte ethisch-moralische Bewertung der NS-Verbrechen, über sozial erwünschte Sprachregelungen oder erwartete Haltungen beinhalten kann. Etwas über den Holocaust zu lernen, ist deshalb vom Lernen binomischer Formeln oder dem Erwerb sprachlicher Kompetenzen zu unterscheiden, weil dieses Thema bereits in der Öffentlichkeit mit moralischen Erwartungen belegt ist, die auch auf das Unterrichtsgespräch Einfluss haben können.
  • Zum anderen ist die Spezifik der unterrichtlichen Kommunikationsform zu berücksichtigen. Neben der Vermittlung von Lerngegenständen und ihrer nicht selten eigensinnigen Aneignung durch die Lernenden geht es im Unterricht immer auch darum, diese Schüleraneignungen als Lernleistungen zu bewerten. Das Lernen der Schüler/innen, ihre historisch-moralischen Urteile werden damit regelmäßig selbst zum Gegenstand von Beurteilungen – und das unter den besonderen Bedingungen einer gegenseitigen Beobachtung aller Unterrichtsteilnehmer im Sozialraum Schulklasse. Die Behandlung des Themas Nationalsozialismus führt neben themenbezogenen Geltungsansprüchen deshalb immer auch soziale Positionierungen und Adressierungen der Schüler/innen mit sich, die unter dem Aspekt der Zuschreibung oder Verweigerung von Achtung und Anerkennung Konfliktdynamiken in der Klasse evozieren können.
 

Befund 1: Wissensvermittlung statt moralischer Erziehung

Unsere empirischen Rekonstruktionen von Geschichtsstunden in unterschiedlichen Jahrgangsklassen und Schulformen der Sekundarstufe I[1] zeigen, dass in der Unterrichtskommunikation fast durchgehend eine direkte Einflussnahme auf das historisch-politische Bewusstsein vermieden wird. Stattdessen dominiert eine wissensbezogene Form der Thematisierung des Nationalsozialismus. Behandelt werden soziale, politische und ideologische Hintergründe und Zusammenhänge der NS-Verbrechen. Moral im Sinne einer personenbezogenen Adressierung der Schüler/innen wird auch dann vermieden, wenn Lernende Beiträge in das Unterrichtsgespräch einbringen, die als Abweichung von moralischen Erwartungen des Redens über den Nationalsozialismus gedeutet werden könnten. Lehrpersonen korrigieren in solchen Situationen Unzulänglichkeiten im Umgang mit historischen Quellen oder Inkonsistenzen in der Argumentation, nicht jedoch den Urheber dieser Äußerungen als moralisches Subjekt. Diesen sachlichen, auf den kognitiven Gehalt des Themenfeldes zielenden Modus der Kommunikation könnte man als Beleg für die relative Stabilität der Prämisse der schulischen Thematisierung des Nationalsozialismus und des Holocaust deuten: Bis auf weiteres vertraut der Geschichtsunterricht auf die allen Beteiligten unterstellte moralische Verurteilung des Nationalsozialismus. In diesem Sinne lassen sich unsere Analysen zunächst dahingehend resümieren, dass historisch-moralisches Lernen, das explizit von den Lehrpersonen ausgeht und auf die moralischen Urteile und Haltungen der Schülerinnen und Schüler zielt, eher vermieden, wenn nicht gar gezielt umschifft wird.

Befund 2: Moralische Konflikte im Geschichtsunterricht

Nur unter ganz spezifischen Bedingungen, so unsere Analysen, kommt es im Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu einer moralischen Aufladung der Kommunikation. Auffallend an diesen Situationen ist, dass sie nicht von Lehrpersonen und das heißt absichtsvoll initiiert werden. Sie sind vielmehr entweder das Resultat einer kommunikativen Explizierung des impliziten moralischen Gehalts des Themenfeldes Nationalsozialismus und Holocaust oder aber die Reaktion auf Beurteilungen der Lehrperson, die von den Lernenden zumindest im Zusammenhang dieses Themenfeldes als an sie persönlich adressierte moralisch-negative Urteile gedeutet werden.

  • Ein Beispiel für die erste Variante: Die Klasse behandelt die Ursachen und Hintergründe des Antisemitismus. Der Lehrer lenkt das Gespräch auf den Aspekt des christlichen Antijudaismus. Völlig unvermittelt unterbricht die Schülerin Jenny dieses Gespräch, in dem sie einwirft, dass sie nicht verstehe, warum sie sich immer wieder für die an Juden begangenen Verbrechen entschuldigen müsse. Sie könne doch gar nichts mehr dafür. Deutlich wird hier, dass die bloße Thematisierung des Antisemitismus immer auch unmittelbar moralische Erwartungen mit sich führt. Jenny versteht sich als jemand, die sich von einer Entschuldigungserwartung moralisch als Person angesprochen fühlt. Das Irritierende an ihrem Beitrag besteht darin, dass die Zurückweisung einer Entschuldigungserwartung kommunikativ nur Sinn macht, wenn es vorher eine Schuldzuweisung gegeben hat. Dies ist jedoch in der gesamten Stunde explizit nicht der Fall. An keiner Stelle des Unterrichts finden sich Hinweise auf ein moralpädagogisches Konzept, das die Lernenden persönlich als Schuldige adressiert und zu einer Positionierung gegenüber dem Nationalsozialismus und dessen antisemitischer Ideologie aufgefordert hätte. Dieser Übergang von einer kognitiven Kommunikation über Moral zur moralischen Kommunikation bei Jenny kann unserer Meinung nach m. E. unter zwei sich hier verschränkenden Bedingungen gedeutet werden: Zum einen ist unabhängig von expliziten moralpädagogischen Absichten des Lehrers von einer impliziten moralischen Aufladung des Themas Antisemitismus durch den öffentlichen Erinnerungsdiskurs auszugehen. Hinzukommt, dass Unterricht als pädagogische Form ebenfalls durch eine generalisierte Erziehungserwartung strukturiert ist. Sie versieht nahezu jede unterrichtliche Behandlung eines Themas mit einer bestimmten, keineswegs beliebigen Lernerwartung, was wiederum – gerade vor dem Hintergrund der institutionalisierten Generationendifferenz im Klassenzimmer – zu entsprechenden Ablehnungsreaktionen bei den Schülern und Schülerinnen führen kann. Und das Feld der Moral eignet sich offenbar in besonderer Weise zur schülerseitigen Inszenierung von Dissidenz.
  • Ein Beispiel für die zweite Variante: Eine andere Klasse behandelt die nationalsozialistische Eroberungspolitik im Osten. Mit Verweis auf eine Schulbuchquelle beantwortet die Schülerin Uta die Frage, ob in den militärisch zu erobernden Gebieten keine Menschen lebten, mit der Formulierung, dass „dort (...) Hitler ja schon sauber gemacht (hat)“. Daraufhin macht die Lehrerin Uta darauf aufmerksam, dass dies ein „brisantes Thema“ sei und sie sich überlegen müsse, wie sie sich sprachlich ausdrücke. Denn „sonst wird das ein bisschen problematisch, da weiß man nicht so genau, vertrittst Du jetzt auch die Position oder möchtest Du dich davon distanzieren“, so die Lehrerin weiter. Bereits in diesen Beitrag hinein unterbricht Uta die Lehrerin mit einem lauten „Nein“, dem sie dann noch das Bekenntnis „Ich bin kein Nazi, ich wollt es nur sagen, o.k.?“ hinzufügt. Uta deutet den bewertenden Eingriff der Lehrerin offenbar nicht nur als gut gemeinten Ratschlag für den angemessenen Umgang mit NS-Quellen, sondern auch als moralisches Urteil über sie als Person. Nur diese moralische Zurechnung durch Uta, unabhängig davon, wie die Lehrerin ihre Korrektur gemeint hat, macht verständlich, warum die Schülerin mit einem derart demonstrativen Ich-Bekenntnis reagiert. Wie könnte dieses Beispiel eingeordnet werden? Die im Unterricht immer mitlaufende Bewertung scheint dann ein Einfallstor für die moralische Aufladung des Unterrichts zu sein, wenn Themen behandelt werden, die von den Beteiligten als moralisch so relevant gedeutet werden, dass bereits die lehrerseitig kund getane Unsicherheit über die potentielle („sonst“) öffentliche Wahrnehmung einer Äußerung die explizite Markierung moralischer Integrität nach sich zieht. Eine derartige Unsicherheit kann im Geschichtsunterricht bei der moralisch relevanten Frage, ob man die Position der Nazis vertritt oder sich davon distanziert, offenbar nicht zugelassen werden.
Pädagogische Schlussfolgerung: Mehr Reflexivität wagen

Was folgt aus diesen Ergebnissen über die Bedeutung von Moral in der unterrichtlichen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust für die erinnerungspädagogische Arbeit? Zwei Schlussfolgerungen drängen sich auf:

  • Erstens zeigen unsere Analysen, dass der moralische Gehalt der Themen Nationalsozialismus und Holocaust im Sinne bestimmter Lernerwartungen immer im Unterricht präsent ist – also auch dann, wenn eine Lehrperson selbst gar nicht die Absicht verfolgt, die Schüler/innen moralisch zu adressieren. Vor diesem Hintergrund scheinen solche Ansätze Recht zu haben, die die moralische Imprägnierung der Erinnerungspädagogik bereits reflexiv in die eigene Konzeptentwicklung einbeziehen. Dies würde bedeuten, die Frage, wie mit der erinnerungskulturell vermittelten moralischen Erwartungsstruktur des Themenfeldes umgegangen werden soll, offensiv mit den Schüler/innen zu verhandeln, d. h. sie selbst zum Lerngegenstand zu machen.
  • Zweitens können unsere Analysen sichtbar machen, dass die pädagogische Initiierung von Prozessen politisch-moralischer Urteilsbildung unter Bedingungen von Schule eng mit Akten der Be-Urteilung von Urteilen verwoben ist. Wenn es im Unterricht um Themen geht, für die in der Öffentlichkeit eindeutige Erwartungen bestehen, wie über diese zu sprechen ist, dann ist das Risiko nicht zu unterschätzen, dass solche Beurteilungen Konflikte evozieren. Um die Konflikthaftigkeit von Beurteilungen in historisch-moralischen Lernprozessen zu wissen, wäre die eine Aufgabe. Die Unterscheidung zwischen der zu vermeidenden Beschämung der Schüler/innen und dem notwendigen Insistieren auf den Kriterien für gelungene Urteilsbildung in der Praxis taktvoll und kompetent zu handhaben die andere, wenngleich ungleich schwerere.

[1]           Es sind für die Studie vier mehrwöchige Lehreinheiten im Geschichtsunterricht in zwei Hauptschulklassen der Jahrgangsstufe 9 und in zwei Gymnasialklassen der Stufe 10 beobachtet, audiotechnisch aufgenommen und zum großen Teil in Transkriptprotokolle transformiert worden. 

 
Literatur

Henke-Bockschatz, Gerhard (2004): Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Meseth, W./Proske, M./Radtke, F.-O. (Hg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/New York: Campus, 298-322.

Proske, Matthias (2010): Das moralpädagogische Projekt »Aus der Geschichte lernen« und der schulische Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust. In: Ethik und Gesellschaft Heft 2/2010: Der ganz alltägliche Rassismus. Download unter: http://www.ethik-und-gesell-schaft.de/mm/EuG-2-2010_Proske.pdf

Rüsen, Jörn (1997): Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Bergmann, K. u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. (5. Auflage). Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 304-308.

 

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