Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung
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Ingolf Seidel
Das Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts von 2007 greift die immer noch relevante Fragestellung auf, wie mit dem „absehbaren Ende des 'Zeitalters der Zeugenschaft' umzugehen“ (S.7) sei. Für das historisch-politische Lernen ist und bleibt diese Frage von anhaltender Relevanz, da die pädagogische Arbeit mit videografierten und anderen Zeitzeugnissen andere didaktische Überlegungen erforderlich macht als das unmittelbare Zeitzeugengespräch.
Der Vielschichtigkeit der Thematik entspricht, dass „Zeugenschaft des Holocaust“ ein interdisziplinär angelegter Sammelband ist, der unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche und Herangehensweisen vereint: Die Beiträge stammen aus der Judaistik, Pädagogik, den Literatur-, Film- und Kulturwissenschaften sowie aus den Geschichts- und Rechtswissenschaften. Der Schwerpunkt liegt auf Konzepten der Transformation von Zeugenschaft im israelischen, deutschen und polnischen Kontext.
Der Band ist in vier Oberkapitel eingeteilt. Unter der Überschrift „Konzept und Tradition der Zeugenschaft“ beschreibt Daniel Krochmalnik das Verständnis von Zeugenschaft im Judentum aus religionswissenschaftlicher Perspektive anhand biblischer und rabbinischer Quellen der Zeugenschaft. Daran anschließend stellt Aleida Assmann vier Grundtypen von Zeugenschaft dar: Den juridischen, den religiösen, den historischen und den moralischen Zeugen. Assmann kategorisiert die Überlebenden des Holocaust vor als moralische Zeugen, in denen sich auch Aspekte der anderen Typisierungen wiederfinden. Den dritten Beitrag des Kapitels bildet ein Interview mit Geoffrey Hartmann, dem Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der „Zeugenschaft vor Gericht“. Den Abschnitt einleitend diskutiert Thomas Henne aus juristischer Sicht, warum in Strafprozessen der Täter und nicht der zum Opfer gewordene Zeuge im Zentrum des Verfahrens steht. José Brunners Aufsatz untersucht die nicht beabsichtigten Effekte im Umgang mit Zeugen in Strafprozessen am Beispiel des Eichmann-Prozesses und dessen Rezeption in Israel. Die Erziehungswissenschaftlerin Dagi Knellessen hat Interviews mit Überlebenden in Polen, Israel und Frankreich geführt, die als Zeugen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zwischen 1963 und 1965 auftraten. Der Beitrag greift sowohl die individuellen Motivationen der Überlebenden zur Aussage vor Gericht auf als auch deren Eindrücke vor Gericht und die persönlichen Konsequenzen der juridischen Zeugenschaft.
Der dritte Abschnitt des Buches ist der „Tradierung der Zeugnisse“ gewidmet. Alexander von Plato analysiert die Chancen und Grenzen von Oral History Projekten als Sammlungen subjektiver Zeugnisse und individueller Quellen als Zugänge zur Vergangenheit, die aber nicht ohne eine Kontextualisierung des vorliegenden Materials auskommen. Christian Schneider schreibt über sakralisierende Sprechweisen in Bezug auf Zeugenschaft, die den Holocaust nicht als „Makroverbrechen“ (S.156) fassen würden und verweist dabei auf eine Problematik der offiziellen Gedenkkultur in Deutschland. Er kritisiert die unreflektierte intergenerationelle Weitergabe von Erinnerung, bei der sich die Generation der Achtundsechziger die Position der Opfer angeeignet hätte und macht auf die Gefahr des Missbrauch der Tradierung aufmerksam. Didaktische und methodische Aspekte der Arbeit mit Zeitzeugen betrachtet Gottfried Kößler. Er weist auf notwendige Qualifikationen von Lehrkräften bei der Durchführung eines Zeitzeugengesprächs hin und hinterfragt den Automatismus mit dem ein solches Gespräch als geeigneter pädagogischer Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus gewertet wird. Darüber hinaus stellt er erste didaktische Überlegungen zum Einsatz videografierter Zeugnisse im Unterricht an.
Das vierte Kapitel trägt die Überschrift „Zeugenschaft in Literatur und Film“. Dazu behandelt Karol Sauerland den Umgang mit Zeugenschaft in der polnischen Literatur. Er geht anhand von literarischen Berichten der These nach, dass sich der polnische Nachkriegsantisemitismus aus der direkten Konfrontation mit den Verbrechen auf polnischem Gebiet speise, also aus einem Übermaß an Zeugenschaft resultiere sowie aus der Furcht vor jüdischen Rückerstattungsansprüchen und Vergeltung. Margrit Frölich befasst sich mit dem „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész als literarisches Zeugnis des Holocaust, das allerdings keinen autobiografischen Charakter besitze, sondern eher Ergebnis „einer sorgfältig angelegten Konstruktion“ (S. 232) sei. Der Soziologe und Pädagoge Micha Elm zeigt in seiner Analyse des Films „Der Pianist“ die Überschneidungen des Berichts des jüdisch-polnischen Musikers Włladysław Szpilman im Warschauer Ghetto mit den Kindheitserlebnissen des Regisseurs Roman Polanski in Krakau. Polanski tradiere, so Elm, den „Schock der Erfahrung“ (S.252) der durch die Gewalt Betroffenen und schaffe im Kino einen geschützten Raum, der den Zuschauern Gewalterfahrungen zumute, die ihre „Ursache in der historischen Realität selbst haben“ (S. 253). Abschließend ruft Christoph Schneider in Erinnerung, dass unser Wissen über den Holocaust vor allem „medienvermitteltes Wissen“ (S. 260) ist und fragt danach, wie sich die Aussagen von Zeitzeugen durch die Medialisierung verändern. Schneider weist darauf hin, dass die aufgezeichneten und gespeicherten Aufnahmen der Zeugen nicht nur Derivate für das Gespräch darstellen und gleichzeitig auf die Problematik von Kontextualisierung und „intendierter ebenso wie nicht kontrollierbare, jedenfalls fortgesetzter Sinnzuschreibung“ (S. 277) verweisen.
Die durch die interdisziplinäre Herangehensweise erzielte Komplexität bietet sehr verschiedene Anknüpfungspunkte für das historische Lernen. Für Didaktiker/innen und Pädagog/innen steht zum einen die Reflexion des eigenen Sprechortes immer wieder zur Diskussion, wofür die Beiträge von Gottfried Kößler und Christian Schneider besonderes anregend sind. Gerade in den medienwissenschaftlichen Beiträgen wird noch einmal bewusst, dass nicht nur das Lernen über die Geschichte im Mittelpunkt stehen sollte, sondern auch deren Gewordensein. Schule und außerschulische Bildung sind dabei involvierte Instanzen. Geschichte und deren Interpretation ist ein lebendiger – und umkämpfter - Prozess, der auch nicht mit dem Ende des „Zeitalters der Zeugenschaft“ abgeschlossen ist.
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- 16/02/2011 - 11:27