Dialogue

Einige Betrachtungen zu zeitgemäßem Gedenken

Andrés Nader, Ph.D., ist Referent der Amadeu Antonio Stiftung zu den Themen Antisemitismus und Rassismus. Bis Ende 2010 leitete er dort ein Projekt zu lokalen Erinnerungskulturen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt (http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/umgang-mit-dem-ns/). Er unterrichtet an der New York University in Berlin. Sein Buch Traumatic Verses: On Poetry in German from the Concentration Camps, 1933-1945 gewann 2008 den MLA Preis für Unabhängige Forschung.
Von Andrés Nader

„Gedenken – aber wie?“ heißt für mich vor allem: wie sprechen wir jetzt über den Nationalsozialismus, über Nazideutschland? Wie sprechen wir über die Menschen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden? Zeitgemäß ist eine Erinnerung, die ehrlich, konkret und lokal verankert ist, die vielfältige Zugänge ermöglicht und Komplexitäten damals und heute berücksichtigt, ohne an Klarheit einzubüßen. Das Thema Gedenken wirft für mich auch die Frage auf: warum beschäftigen wir uns heute überhaupt mit dieser Geschichte?

Wichtig ist wie wir sprechen, weil im Sprechen Einstellungen deutlich werden. Ob ich so spreche, als seien die Nazis „Fremdkörper“ in einer unbeteiligten Gesellschaft gewesen; als seien Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma aus deutschen Städten und Gemeinden einfach so verschwunden, ohne das konkrete Zutun von individuellen Menschen. Oder ob ich bei einer Gedenkveranstaltung erzähle, was die lokale Zeitung über die „Juden“ und die „Zigeuner“ damals schrieb, wie die städtische Verwaltung „Judenhäuser“ organisierte, wie die Polizeidirektion in meinem Bezirk bei den Pogromen im November 1938 mitwirkte, wie Wissenschaftler Sinti und Roma aufspürten und registrierten, was die lokalen Finanzbeamten und Beamtinnen mit dem Eigentum aus Wohnungen und Häusern machten, deren Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben wurden. Auf welche Art ich das alles erzähle oder gar verschweige (bei Gedenkveranstaltungen oder im Unterricht oder Zuhause) macht einen wesentlichen Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen ehrlich, konkret und lokal verankert einerseits und beschwichtigend, mystifizierend, unklar und unehrlich andererseits. Zudem sind Sätze die nicht erzählen, wer es getan hat, fast die Regel im Sprechen über diese Geschichte: „die Synagogen brannten“, „die Juden wurden deportiert“, „geistig Kranke wurden ermordet“, „Kneipen, die von Homosexuellen frequentiert wurden, wurden geschlossen“. Diese Sätze sind an sich korrekt, aber es lohnt sich auch auszuprobieren, durch die Sätzen zu erzählen: wer zündete an, wer schrieb welche Gesetze und Akten, wer deportierte, wer tötete, wer profitierte, wer schaute zu.

Eine zeitgemäße Erinnerung geht aber über eine intergenerationelle oder innerfamiliäre Auseinandersetzung hinaus. Das bedeutet, Erinnerungsarbeit darf nicht davon ausgehen, dass alle Deutschen Nachkommen der Tätergeneration sind. Gleichzeitig ist diese Auseinandersetzung für alle wichtig, nicht nur für die Nachkommen der direkten Täter. Notwendig ist eine Erinnerungsarbeit, die diese Geschichte nicht in der Frage der familiären Verstrickung beginnen und enden lässt, sondern diesem Zugang auch viele weitere Möglichkeiten der Annäherung hinzufügt, wie zum Beispiel: die bleibende Bedeutung der Geschichte für die Opfer und deren Nachkommen, die Narben in der Gesellschaft und der Kultur – wie die deutsche Gesellschaft sich selbst geschädigt hat durch den Raub, die Vertreibung und Ermordung von so vielen Einzelnen –, eine Reflexion über den Umgang mit der NS-Geschichte in den zwei deutschen Nachkriegsstaaten und heute, eine genaue Analyse der intendierten und der unbeabsichtigten Botschaften von alten und neuen Denkmälern, Gedenkveranstaltungen und Gedenkstätten, der Umgang mit der verbrecherischen Vergangenheit in anderen Gesellschaften. Diese Aufzählung ließe sich noch nahezu beliebig erweitern.

Die deutsche Gesellschaft soll einerseits ihre Haftung für die nationalsozialistischen Verbrechen anerkennen und gleichzeitig nicht davon ausgehen, alle Deutschen seien Nachkommen der Täter und Täterinnen: Dieser Spagat ist die Art von Komplexität im Umgang mit der Geschichte, die mir für ein zeitgemäßes Gedenken erforderlich erscheint. Es ist die Komplexität, die nötig ist, zum Beispiel, um den Nationalsozialismus als deutsches Phänomen zu betrachten, ohne den Blick für seine lokalen und europäischen Dimensionen zu verlieren. Die europäische Dimension des Massenmordes an den Jüdinnen und Juden, an den Sinti und Roma entlastet nicht die deutsche Gesellschaft, sondern macht die Geschichte komplexer, aber deswegen nicht in ihrer moralischen Bedeutung weniger deutlich.

Aber warum sollen wir uns heute mit dieser Geschichte beschäftigen? Weil der Nationalsozialismus viele Narben hinterlassen hat, die wir sonst nicht verstehen können: von der deutschen Teilung über die vielen vernachlässigten oder inzwischen musealisierten jüdischen Friedhöfe bis zu dem Glauben, die Deutschen seien ein homogenes Volk. Gewaltsam und mit verheerenden Folgen versuchten die Nazis den Wunsch nach „rassischer Reinheit“ durchzusetzen. Dieser rassistische Homogenisierungswahn und die dazugehörige Vorstellung der Volksgemeinschaft prägen bis heute die Selbstdarstellung der deutschen Gesellschaft, prägen bis heute die Benutzung des Wortes „wir“. Wenn in Deutschland „wir“ weiße Menschen christlicher Prägung und ethnisch-deutscher Abstammung meint, ist das für mich nicht zeitgemäß und Zeichen einer unreflektierten Erinnerungsarbeit, die vielleicht die nationalsozialistische Ermordung der Juden Europas beklagt, aber nicht fähig ist, die tatsächliche gesellschaftliche Vielfalt anzuerkennen und zu würdigen, die die Nazis versuchten, für immer zu tilgen. Somit verfehlt eine solche Erinnerungs- und Gedenkkultur die Aufgabe, relevant und zeitgemäß zu sein und zu bleiben.

 

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