Dialogue

Besatzung und Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges in Frankreich

Jean-Luc Bellanger ist Journalist. Er wurde 1942 wegen Widerstands für drei Jahre nach Deutschland deportiert.
Von Jean-Luc Bellanger

Zwischen der Kriegserklärung vom September 1939 und Mai 1940 herrschte in Westeuropa eine relative Waffenstille, die als „drôle de guerre“ (sonderbarer Krieg) oder auch „Sitzkrieg“ bekannt ist. Am 10. Mai 1940 entfesselte sich eine Art Tsunami: Innerhalb von 6 Wochen hatten die Panzerdivisionen Hitlers Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich überrollt und die Kapitulation Frankreichs am 22. Juni erreicht. Zwei Drittel des Landes sind besetzt. Eine Mehrzahl der französischen Parlamentarier hat dem greisen Marschall Pétain Vollmachten zuerkannt, die ihm erlauben die Republik abzuschaffen, um einen „Staat Frankreich“ (Etat français) aufzubauen, in dem sehr schnell neue Gesetze die demokratischen Freiheiten begrenzen. Schon Anfang Oktober, kein Vierteljahr nach der Kapitulation, entsteht z.B. ein Statut gegen Juden, das nicht einmal von den Nazis verlangt worden ist. In der allgemeinen Bestürzung der Niederlage bilden sich bald zwei gegensätzliche Minderheiten mit unterschiedlichen Vorstellungen von der die Zukunft.

Die Kreise der faschistischen und monarchistischen Bewegungen, die in den dreißiger Jahren für Straßenkämpfe und sogar Putschversuche verantwortlich waren, empfanden die Niederlage Frankreichs als ihren Sieg. Im Jahre 1936 war die „Volksfront“ an die Macht gelangt, für die extrem-rechten Kreise unerträglich. Pétain erschien dieser kämpferischen Rechten die Person zu sein, die Linksparteien, Gewerkschaften, Pazifisten, Antifaschisten, usw. zum Schweigen bringen könnte. Die proklamierte „Neue Ordnung“ würde, notfalls unter der Schirmherrschaft Hitlers, dem Pöbel endgültige Schranken setzen. Die Aktivisten waren eine Minderheit, aber da sie die neue Macht als die ihrige ansahen und auch schnell von ihr finanzielle Mittel und politische Posten bekamen, besaßen sie bald eine gewisse Anziehungskraft.

Am anderen Ende der öffentlichen Meinung fand man dagegen alle, die den Gedanken an einen definitiven Sieg Hitlers verwarfen. Sie hatten grundverschiedene Hintergründe: Anhänger der republikanischen Staatsform, Demokraten, antifaschistische Linke, Nationalisten aus der Rechten. In den Monaten nach der Niederlage ist der Wille, die Unterwerfung abzulehnen ein meist spontaner, individueller Entschluss. Für manche Franzosen spielte bald die Tatsache eine Rolle, dass sich ein unbekannter General, de Gaulle mit Namen, nach England begeben hatte und von dort über den Rundfunk die Fortsetzung des Kampfes Hand in Hand mit den Engländern ankündigte und alle Franzosen dazu aufforderte, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Zwei Minderheiten also. Die eine meinte, auf ewig die Macht zu besitzen; sie wollte sich für die Frustrationen des Vorkriegs rächen, hatte direkt oder indirekt Oberhand über alle staatlichen Werkzeuge und fühlte sich vom ehrwürdigen Staatschef geschützt. Alle Polizeikräfte standen stramm und notfalls wurde das Recht gebeugt. Die andere Minderheit, für die der Begriff „Widerstand“ noch nicht geläufig war, die aber ihn ausüben wollte, lebte vorsichtig, dachte sich Mittel für die nahe oder die weitere Zukunft aus, mit denen dem künftigen Befreier zu helfen wäre. Sie suchte nach Wegen, die eine Verbindung mit denen schaffen könnte, die noch in England weiter kämpfen. Die große Masse des Volkes währenddessen lebte vor sich hin, interessierte sich wenig für die Ereignisse im Lande und in der Welt, bemühte sich, Unannehmlichkeiten zu vermeiden und versuchte, sich satt zu essen. Zwar dachte man auch an die anderthalb Millionen Kriegsgefangenen in Deutschland, aber vor allem wollte man möglichst nicht auffallen.

Man kann grob drei Perioden der Besatzung unterscheiden: 1940-42, bemühte sich die Regierung, die im Kurort Vichy saß, um ihr Statut. Am 22. Oktober 1940 begegnete Pétain Hitler im Städtchen Montoire an der Loire und verkündete kurz danach, Ende Oktober, die Politik der Kollaboration. Im Juli war die „Legion der französischen Freiwilligen gegen den Bolschewismus“ (LVF), Vorläufer der französischen Waffen-SS, gegründet worden. Die antijüdischen Maßnahmen häuften sich und bis zur Befreiung des Landes wurden fast 75 000 Personen als Juden deportiert, von denen nur 3,5 % überlebten. Ende Juli wird eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Vertreter Himmlers, HSSPF für Frankreich, Oberg, und dem Vertreter der französischen Polizei, Bousquet, beschlossen, für intern-deutsche Politik Beweis des Endsieges der Sipo-SD über den Militärbefehlshaber in Frankreich, Otto von Stülpnagel, der verstanden hatte, dass die Strategie des Terrors kontraproduktiv war. Nach Attentaten gegen Wehrmachtmitglieder war in der Tat die Erschießung von großen Geiselgruppen von der Bevölkerung sehr negativ empfunden worden.

SIPO-SD, Abwehr, Gestapo und Geheime Feldpolizei (GFP) hatten in der Tat alle Hände voll zu tun, und die Hilfe der französischen Polizeikräfte war für sie unersetzlich. Schon in den ersten Wochen nach der Niederlage begann man in der besetzten Zone, einen Widerstand aufzubauen. Die Verbindung mit den Franzosen de Gaulles in England festigte sich langsam, Informationen wurden gesammelt und dorthin weitergeleitet, unter großen Gefahren und über allerlei Umwege kamen Kundschafter aus England nach Frankreich, und bildeten regelrechte Netze (Réseaux), während sich unabhängig davon, in beiden Teilen des Landes Organisationen aufbauten. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 war die Kommunistische Partei als Ganzes in den (auch bewaffneten) Kampf eingetreten. Der Eintritt der USA in den Krieg war mit Erleichterung aufgenommen worden und wog für viele die ersten Erfolge der Nazis in der UdSSR auf. Die amerikanische Landung in Nordafrika im November 1942 bedeutete neuen Mut für die Nazigegner, trotz (und teilweise wegen) der darauffolgenden deutschen Besetzung des bisher „freien“ Südfrankreichs.

Zweite Periode, 1943-Anfang 1944. Monatelange Vorbereitungen unter Leitung eines Vertreters de Gaulles in ganz Frankreich führten zur Schaffung im Mai 1943 des „Conseil National de la Résistance“ (Nationalrat des Widerstands, CNR) das die Hauptorganisationen, -gruppen und Parteien vereinte. Das Scheitern der Wehrmacht vor Moskau, und vor allem 1943 die Niederlage von Stalingrad, stärkten den Willen zum Widerstand. Gleichzeitig brauchte Deutschland Arbeitskräfte, eine „Ablösung“ von Kriegsgefangenen durch freiwillige Arbeiter war wenig ergiebig gewesen, also wurde im Februar 1943 eine „Arbeitsdienstpflicht in Deutschland“ (STO) eingeführt. Viele der betroffenen Männer zogen es vor, zu verschwinden bzw. gingen zu den „Maquis“ in entlegenen Gebieten, wurden also zu Partisanen. Von dann ab stieg die Widerstandstätigkeit ständig. Es entfesselte sich ein verbissener Kampf zwischen den deutschen Polizeiorganen, nebst ihren französischen Kollegen, und dem Widerstand, wobei die Emsigkeit der Beamten unterschiedlich war. Im Jahre 1943 wurden z.B. von den Deutschen fast 35 000 Personen aus politischen Gründen festgenommen, von den Franzosen weniger als 10 000. Eine besondere Truppe, die „Milice“, von einem elitären Nationalisten aus der extremen Rechten, Joseph Darnand, gegründet, spielte im Kampf gegen den Widerstand (aber auch in der Jagd nach Juden und nebenbei in kriminellen Handlungen) eine berüchtigte Rolle. Ihre Brutalität, ihre Habgier, ihre Primitivität, machten sie zu einer unkontrollierbaren Gefahr. Im Sommer 1943 zählte die Truppe rund 30 000 Mitglieder, die unter anderem auch im Kampf gegen die „Maquis“ furchtbare Gräueltaten verübten. Zu dieser Zeit wurden im ganzen Land vom Widerstand in der Industrie, den Transporten, und allen kriegsnützlichen Sektoren immer zahlreichere Sabotagen ausgeführt.

Die Kollaborationsregierung von Vichy und ihre Anhänger in der Politik, in Presse und Rundfunk sowie ihre Polizeikräfte bemühten sich, den Besatzern zu gefallen. Der Chef der „Miliz“, Darnand, wurde zum Minister ernannt. Ein paar Tage später, Anfang Januar 1944, wurde auch der virulenteste Rundfunkpropagandist, Henriot, Staatssekretär. Ende Januar durfte die Miliz im ganzen Lande walten. Die pro-Nazi Propaganda wurde auch dadurch indirekt unterstützt, dass die Alliierten, in Vorbereitung der Landung vom Juni 1944, immer wieder militärische bzw. industrielle Anlagen in französischen Städten unter großen zivilen Verlusten in der Bevölkerung bombardierten.

Im Jahr 1944 (dritte Periode) verschärfte sich der Kampf gegen die Résistance: im Januar erlaubte Churchill die Lieferung von Waffen an den Widerstand. Partisanengruppen wurden von SS, Wehrmacht und französischer Miliz angegriffen und getötet bzw. zerstreut, Erschießungen von Widerständlern wurden zahlreicher und propagandistisch genutzt. Mit der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 begann eine noch härtere Periode, mit alliierten Bombardements, Bodenkämpfen und Nazi-Exzessen aller Art gegen Menschen oder gegen Ortschaften (Anzünden der Kirche von Oradour mit 648 Zivilisten, vor allem Frauen und Kindern, Besetzung der Stadt Tulle, wobei hundert Zivilisten gehängt wurden, und vieles andere mehr). Vor allem SS-Divisionen wie „Das Reich“ zeigten sich in ihrem Wirken barbarisch. Militärisch dauerte der Rückzug bis zum Winter 1944-45, als Frankreichs Territorium fast gänzlich befreit war. Seit Beginn der Besatzung waren fast 87 000 Personen im Zuge der „Repression“ gegen den Widerstand in deutsche KZs oder Gefängnisse deportiert worden, von denen mehr als 42 % nicht überlebten.

Was die Kollaborateure angeht, so flüchteten die Hauptverantwortlichen nach Deutschland (oder z.B. Spanien). Viele wurden vor Gericht gestellt und 1 500 nach einem Todesurteil hingerichtet, vor allem solche die als Polizisten, als Denunzianten bekannt waren, oder Intellektuelle, die sich besonders hasserfüllt gezeigt hatten, und andere mehr. Daneben hatten zu Beginn politische Abrechnungen 8775 Kollaborateure das Leben gekostet. Alle Zeitungen, die während der Besatzung unter Kontrolle erschienen waren, also kollaboriert hatten, wurden verboten. Noch jahrelang gab es Prozesse. Die Folgen der Kollaboration waren so tief, dass man sie noch jahrzehntelang bemerken konnte. Im siebten Jahrzehnt nach der Besetzung des Landes kann man immer noch gelegentlich Spuren von der Kluft zwischen Widerstand und Kollaboration entdecken.

 

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