Von Wolfgang Stender
Thema
Kaum ein pädagogisches Handlungsfeld ist moralisch so überladen und durch unbewusste Ambivalenzen, Ängste und Schuldgefühle verzerrt wie das des Umgangs mit Antisemitismen bei Jugendlichen. Entsprechend groß ist die Unsicherheit, aber auch die Tendenz zu Überreaktionen auf Seiten der Pädagog/innen, zumal Antisemitismus auch in adoleszenten Kommunikationszusammenhängen zunehmend aus seiner Latenz heraustritt und wieder offenere Formen annimmt. Wiederkehrend haben Praktiker/innen aus Schule und Jugendarbeit in den letzten Jahren auf diese Tendenz hingewiesen und, zum Teil mit hoher medialer Resonanz, Unterstützungsbedarf signalisiert. Mit dem Buch von Heike Radvan liegt nun eine Studie vor, die zum ersten Mal die pädagogischen Umgangsweisen mit Antisemitismus in der Jugendarbeit qualitativ-empirisch untersucht und wissenschaftlich fundierte Handlungsperspektiven entwirft.
[…] Ihr Forschungsinteresse, so schreibt sie einleitend, gehe auf Praxiserfahrungen zurück: „Praktiker der Bildungs- und Jugendarbeit berichteten in der Amadeu Antonio Stiftung über antisemitisch konnotierte Äußerungen von Jugendlichen“ und zeigten sich verunsichert, wie mit diesem Phänomen umzugehen sei (S. 9). Was aber soll man den Pädagog/innen raten? Wie kann man sie im Rahmen der Aus- und Weiterbildung sinnvoll unterstützen? Dies ist die eminent praktische Frage, die der Studie von Radvan zugrunde liegt.
[…] Im ersten Teil, der drei Kapitel umfasst, stellt die Autorin zunächst den Stand der Fachdiskussion zum pädagogischen Handeln in der Jugendarbeit im Allgemeinen, zu den methodischen Zugängen zum Phänomen des Antisemitismus bei Jugendlichen im Besonderen dar (Kap. 1), entwickelt dann eine empirisch brauchbare Arbeitsdefinition zum Antisemitismus (Kap. 2) und präsentiert die methodische Anlage der Studie (Kap. 3). Im zweiten Teil, der vier Kapitel umfasst, werden die empirischen Untersuchungsergebnisse (Kap. 3 – 6) dargestellt und in ihren Perspektiven für die Aus- und Weiterbildung reflektiert (Kap. 7).
Inhalt
Mit Blick auf den Forschungsstand wird schnell deutlich, dass Radvan mit ihrer Studie wissenschaftliches Neuland betritt. Zu der Frage nach dem pädagogischen Umgang mit Antisemitismus bei Jugendlichen lag bislang – neben dem für die Fachdiskussion insgesamt initialen Sammelband „Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus“ (2006) und dem daran anschließenden Band „Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis“ (2010) – lediglich der Forschungsbericht „’Ich habe nichts gegen Juden, aber…’ Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus“ vor, verfasst von Barbara Schäuble und Albert Scherr (2007). [...]
Innovativ ist die Studie aber nicht nur in ihrer Forschungsfrage, sondern auch in der theoretischen und methodischen Herangehensweise. Zum ersten Mal werden hier die von Klaus Holz an klassischen antisemitischen Texten und von Thomas Haury am weltanschaulichen „Antisemitismus von links“ herausgearbeiteten semantischen Strukturelemente an alltagssprachlichen Elaboraten überprüft. [...]
Wie es der Autorin im zweiten Teil der Studie gelingt, am empirischen Material der Interviews mit Sozialpädagog/innen semantische Strukturmerkmale nachzuweisen, die denen antisemitischer Texte gleichen, bildet zweifellos das Glanzstück des Buches. In ihrem Sprechen über den Antisemitismus bei Jugendlichen verwendet ein Teil der interviewten Pädagog/innen exakt jene semantischen Strukturelemente der Dichotomisierung, Ethnisierung, Generalisierung und Personifizierung, die eben auch den Antisemitismus kennzeichnen. Und auch die fragmenthafte Verwendung antisemitischer Mythen – die abwertende Zuschreibung von Raffgier, Rachsucht und Macht bis hin zur Darstellung der „Juden“ als Täter und der „Deutschen“ als Opfer – lässt sich am empirischen Material nachweisen. So aber verstärken die Pädagog/innen ungewollt und unerkannt die antisemitischen Differenzkonstruktionen, die sie doch ihrem anti-antisemitischen Selbstverständnis nach bekämpfen wollen – ein Befund, der gerade für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit und deren Schwierigkeit, selber nicht antisemitisch zu sein, von höchster Relevanz ist
Es wäre allerdings ein Missverständnis, Radvans Studie auf eine Entlarvungsarbeit zu reduzieren. Der Autorin geht es darum, pädagogische Beobachtungshaltungen herauszuarbeiten, die antisemitismuskritische Handlungsmöglichkeiten entweder eröffnen oder blockieren. Beobachtungshaltungen „spuren“ pädagogische Interventionswege „ein“; sie strukturieren die Handlungspraxen. Da es sich bei den Beobachtungshaltungen aber in der Regel um Formen eines habitualisierten Wissens handelt, das den Akteuren selber nicht bewusst ist, bedarf es einer spezifischen Methode der Rekonstruktion. Für diese bildet die praxeologische Wissenssoziologie in der Tradition von Karl Mannheim den begrifflichen und methodologischen Referenzrahmen. Die von Ralf Bohnsack in Fortführung der praxeologischen Perspektive systematisch ausgearbeitete dokumentarische Methode ermöglicht es Radvan, anhand der Gesprächsprotokolle von 13 ausgewählten Interviews – insgesamt lagen der Studie 21 narrative Interviews mit Mitarbeiter/innen von Berliner Einrichtungen der offenen Jugendarbeit zugrunde – das handlungsstrukturierende Wissen der Jugendpädagog/innen zu explizieren. [...]
Versucht man die praktischen Schlussfolgerungen der Studie von Heike Radvan abschließend in einem Begriff der antisemitismuskritischen Kompetenz zusammenzufassen, so müsste dieser praktisches Können, theoretisches Wissen und berufsethische Haltung in eine Synthese bringen: Ein/e antisemitismuskritische/r Sozialarbeiter/in wäre in der Lage, ihr/sein theoretisches Wissen über Antisemitismus und ihre/seine menschenrechtsorientierte Berufsethik im praktischen Können einer rekonstruktiven Beobachtungs- und Interventionshaltung so zu realisieren, dass den Adressaten ihrer/seiner Arbeit Deutungs- und Handlungsoptionen jenseits antisemitischer und anderer ideologischer Differenzkonstruktionen ermöglicht werden. Diese Kompetenz ließe sich in der Aus- und Weiterbildung am besten im gemeinsamen reflexiven Arbeiten an konkreten Fällen antisemitischer Alltagsgewalt erwerben.
Diskussion
Eine Grenze der Arbeit von Radvan besteht in der Fokussierung auf die sinngenetische Rekonstruktion. Die sozio- und auch psychogenetische Interpretation ist aber gerade beim Thema Antisemitismus unverzichtbar. […] Die Erkenntnis, dass es sich nicht nur beim weltanschaulichen Antisemitismus, sondern auch bei den fragmentierten Mythen des Alltagsantisemitismus um affektiv besetzte Differenzkonstruktionen handelt, fehlt bei Radvan – wie übrigens auch schon bei Holz. Dies ist folgenreich auch in den pädagogischen Schlussfolgerungen. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit muss die Wunsch- und Angstbasis antisemitischer Alltagsgewissheiten inhaltlich und methodisch ernst nehmen, wenn sie nicht in den Engpässen kognitivistisch halbierter Lern- und Bildungstheorien stecken bleiben will. [...]
Ebenso wichtig ist die soziogenetische Interpretation. Dies betont Radvan selber, wenn sie von der „genetischen Suchhaltung“ spricht, die gute pädagogische Praxis kennzeichnet. Bezogen auf ihre eigene Studie aber schreibt die Autorin, dass eine soziogenetische Typenbildung, die den Zusammenhang von sozialem Kontext und habitualisiertem Wissen erfasst, „auf Basis der Rekonstruktion des erhobenen Materials nicht möglich (war)“ (S. 103).
Fazit
Wer wissen will, wie man mit Jugendlichen über und gegen Antisemitismus arbeiten sollte, kommt um das Buch von Heike Radvan nicht herum. Aus Sicht der politischen Bildungsarbeit muss Antisemitismus als eigenständiger Bildungsgegenstand begriffen werden, der eigenständiger pädagogischer Handlungskonzepte bedarf. Bislang war dies nur ein Postulat. Mit der Arbeit von Radvan hat sich dies geändert. Das Buch ist Sozialarbeitsforschung at its best. Es stellt einen Meilenstein auf dem Weg zur Etablierung antisemitismuskritischer Kompetenz in der Aus- und Weiterbildung nicht nur der Jugend(bildungs)arbeit, sondern der Sozialen Arbeit insgesamt dar. [...]
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Dies ist eine gekürzte Version der Rezension. Die komplette Fassung finden Sie unter untem angegebenen Link.
Wolfram Stender. Rezension vom 07.09.2010 zu: Heike Radvan: Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2010. 292 Seiten. ISBN 978-3-7815-1746-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/10086.php, Datum des Zugriffs 01.11.2010.
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- 29/11/2010 - 16:31