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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Ingolf Seidel
Antisemitismus wird dort, wo er auftritt zu Recht und nachhaltig skandalisiert. Doch die Frage nach der Herkunft von Antisemitismus als Ideologie und Ressentiment wird außerhalb von Spezialdiskursen in den Geschichts-, Sozial- oder Erziehungswissenschaften vernachlässigt.
Mit seiner als Habilitationsschrift verfassten Studie „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich“ will der Gießener Politikwissenschaftler Samuel Salzborn eine Lücke im Bereich der sozialwissenschaftlichen Forschung füllen. Dabei geht es ihm um nicht weniger, als um die „Formulierung einer empirisch grundierten Theorie über die individuellen wie kollektiven Entstehungsursachen des Antisemitismus (…)“ (S. 11). Salzborns Anliegen besteht nicht nur in der Diskussion einer Theorie des Antisemitismus, sondern in deren empirischer Absicherung und in der Folge in dem „Versuch zur Skizzierung einer Politischen Theorie des Antisemitismus“ (S. 17). Salzborn geht dabei in Anlehnung an die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno davon aus, dass Antisemitismus auf der einen Seite ein gesellschaftliches Phänomen ist, das sogar konstituierend für moderne Formen von Vergesellschaftung ist. Auf der anderen Seite spiegelt sich die Problematik in den einzelnen Personen und ihrer psychischen Konstruktion wider, die Adorno als autoritären Charakters bezeichnet. Dem Autor geht es in seiner Studie weniger um ein statisches Theoriegebäude als um eine historische Rekonstruktion unterschiedlicher Antisemitismustheorien, die berücksichtigt, dass der Wandel der bürgerlichen Gesellschaft auch eine „Dynamik des antisemitischen Ressentiments“ (S. 29) mit sich bringt.
Das Kernstück des Buches bilden die Vergleiche sehr unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Theorieansätze, welche die Herkunft des modernen Antisemitismus in Augenschein nehmen. In diesem Teil diskutiert der Autor die Annahmen von Sigmund Freud, Talcott Parsons, Jean-Paul Sartre, Ernst Simmel, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Béla Grunberger, Shulamit Volkov, Moishe Postone, Zygmund Bauman und Klaus Holz. Die Reihenfolge der Darstellung entspricht der entstehungsgeschichtlichen Chronologie.
Im Anschluss folgt eine empirische Prüfung der theoretischen Erkenntnisse. Dazu werden die unterschiedlichen Theorien in einen Zusammenhang mit dem Konzept des sekundären Antisemitismus eingebettet. Die Idee dieses Konzepts besagt, dass ein offener und rassistischer Antisemitismus nach Auschwitz tabuisiert war und nur noch latent kommuniziert wurde. Der sekundäre Antisemitismus entstand aus dem „Wunsch nach Entlastung von der deutschen Vergangenheit“ (S. 199) und nahm die Form eines Antisemitismus wegen Auschwitz an. Ausdrucksweisen dieser Form finden sich in einer Täter-Opfer-Umkehr, also darin die Juden selbst für verantwortlich zu erklären und sie als rachsüchtig und den Holocaust für ihre (ökonomischen) Interessen ausbeutend darzustellen. Es zeigt sich deutlich, dass der sekundäre Antisemitismus „andere Artikulationsformen des Antisemitismus inkorporiert“ (S.199). So ist das Bild der vermeintlichen jüdischen Rachsucht eines, das auf den christlichen Antijudaismus zurückgreift. Ebenso finden sich Formen von Antisemitismus, die einen aggressiven Antizionismus als Referenz nutzen. In diesem Zusammenhang von sekundärem Antisemitismus stehen jene „fünfzehn bis zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung (…) über deren latenten Antisemitismus sich Demoskop/innen seit Jahren einig sind“ (S. 201).
Für die empirische Überprüfung wurden mit 19 Personen Telefoninterviews geführt von denen sieben Interviews in die qualitative Auswertung der Studie einbezogen wurden. Alle Gespräche wurden in zeitlicher Nähe zum Weltjugendtag der katholischen Kirche 2005 geführt. Befragt wurden dabei ausschließlich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Salzborns Erkenntnisinteresse richtet sich dabei weniger auf die „valide Interpretation des Individuums“, sondern auf „die vergesellschaftete Dimension von Individualität“ (S.294), die sich in Einzelaussagen niederschlägt.
Darin liegt auch die Relevanz von Salzborns Arbeit. Antisemitismus ist in erster Linie als Problematik der gesamten Gesellschaft zu fassen und nicht nur bestimmten Trägerschichten zuschreibbar. Salzborn hat sich nicht mit dem Antisemitismus unter jugendlichen Migrant/innen oder innerhalb der Linken befasst, sondern seine Interviews mit Angehörigen der so genannten Mehrheitsgesellschaft geführt. Das ist nur vordergründig ein Manko. Selbstverständlich ist der „islamisierte Antisemitismus“ (Michael Kiefer) und der meist antizionistisch begründete Antisemitismus unter Linken und Globalisierungsgegner/innen oder im Rechtsextremismus nicht zu vernachlässigen (siehe dazu auch den Beitrag von Juliane Wetzel in diesem Magazin) Zugleich entlastet der Blick auf die scheinbaren Ränder der Gesellschaft die Mehrheit und fragt kaum noch nach den Entstehungsbedingungen des antijüdischen Ressentiments.
Salzborns Herangehensweise eines theoriegeleiteten sozialwissenschaftlichen Vergleichs bringt die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zurück in den Mittelpunkt der Kritik des Antisemitismus. Allein dies ist ihm hoch anzurechnen. Er stellt sich so gegen einen Trend, ein komplexes Problem wie den Antisemitismus nur noch anhand einzelner Trägerschichten (Jugendliche, Migrant/innen, Muslime) und Phänomene zu beschreiben. In dieser Herangehensweise liegt auch der Wert von Salzborns Studie für Bildungskontexte. Für die schulische und die außerschulische Bildung bleibt es eine Herausforderung, bei der Vermittlung von Geschichte oder in einer antisemitismuskritischen Pädagogik den Rückzug auf eine „moralisch unangreifbare Position“ (Astrid Messerschmidt) von Mehrheitsdeutschen, weißen Lehrkräften oder Pädagog/innen als Problematik reflektieren. Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne und mit den unterschiedlichen Antisemitismustheorien kann diesen Reflexionsprozess unterstützen.
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- 29/11/2010 - 16:14