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Wie bleibt die Gerüchteküche kalt?

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Stephan Bundschuh ist Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA e.V.) in Düsseldorf.

Stephan Bundschuh

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, so lautet eine Sentenz in Theodor W. Adornos “Minima Moralia”. Er ist das laute Geschrei über die Juden, das sich einer genauen Prüfung entzieht. Ein Gerücht ist durch das Unbestimmte, Ungenaue seines Inhalts definiert. Es ermöglicht ein Ausweichen, einen Umweg, einen Rückzug und eine Änderung des Gesagten, da es sich eben um kein „Urteil“, sondern um ein „Gerücht“ handelt. Gleich dem Geruch ist es nicht greifbar und wabernd, nicht aufzuhalten und nur ungefähr zu lokalisieren. Seine Argumente bleiben in der Luft und überdauern Raum und Zeit. Es ist nicht widerlegbar, hat aber seinen bestimmten Zweck in der Stigmatisierung, der Kenntlichmachung, der Ausgrenzung anderer. Auf gleiche Weise kehrt der Antisemitismus immer wieder, sei es in verwandelter Form am gleichen Ort oder anderswo in ähnlicher Form, als ortsansässige Wiederholung oder an neuem Ort in geändertem Gewand.

Das lässt sich heute wieder beobachten, wobei insbesondere sich überschneidende und querende Entwicklungen im Umfeld des Antisemitismus eine kritische Auseinandersetzung mit ihm komplizieren. In Deutschland ist eine Verschiebung vom offiziell geächteten Antisemitismus auf die nicht nur erlaubte, sondern von Teilen des politischen Establishments gezielt geförderte Islamfeindlichkeit festzustellen. Unsere Gesellschaft hat sich aktuell ein neues kollektives Außen erzeugt: die Muslime. Die vor allem im politischen Raum eröffneten Angriffe gegen sie lassen bei anhaltender Dauer auch pogromartige Zuspitzungen nicht mehr ausschließen. Analysen sollten ernstgenommen werden, die die Islamfeindlichkeit in ihrer gesellschaftlichen Funktion heute mit der gesellschaftlichen Funktion des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik vergleichen – was nicht gleichsetzen bedeutet.

Denn die Stellung der muslimischen Bevölkerung ist durchaus von der der Juden damals und heute unterschieden. So handelt es sich bei der stigmatisierten Gruppe der muslimischen Migrant/innen um eine gesellschaftlich relativ neu erzeugte Gruppenkonstruktion. Bis vor kurzem wurden die gleichen Personen in der Öffentlichkeit nicht als „Muslime“, sondern als Personen unterschiedlicher Nationalitäten wahrgenommen, deren Einheit darin bestand, „Ausländer“ und eben nicht „Muslime“ zu sein. Außerdem stellt die neue Gruppe der „Muslime“ zwar auch in Deutschland eine Minderheit dar, im Gegensatz zu den Juden aber wird sie mit einer Religion und mit Nationen verbunden, die tatsächlich zahlenmäßig bedeutend und politisch durchsetzungsfähig sind. Einige islamisch geprägte Staaten agieren nicht nur in der Einbildung, sondern real machtvoll gegen die USA und Europa und lassen sich darin trotz aller politischen, ökonomischen und militärischen Drohgebärden und Kriegsführungen nicht einschüchtern.

Aber islamische Länder wie der Iran spielen zur Unterstützung ihrer antiimperialistischen Politik intensiv auf der antisemitischen Klaviatur – und damit werden Muslime und Muslimas für die Politische Bildung zugleich Zielgruppe als auch Problem. Der Antisemitismus in Form von Holocaust-Leugnung und im Gewande der Israelkritik diskreditiert die teils berechtigten Anliegen islamisch geprägter Länder in ihrem Protest gegen die ökonomische Ausbeutung und politische Bevormundung durch die westliche Welt. Und er ermöglicht einen Re-Import antisemitischer Argumente über die muslimischen Communities nach Deutschland. Damit wird der „Antisemitismus unter Migranten“ in den Migrationsdiskurs eingeführt und kann als Vorwurf auch als Waffe gegen die Integration dienen. Der in Deutschland geächtete, aber vorhandene Antisemitismus der christlichen Mehrheit schafft sich so ein Ventil, um sich an der muslimischen Minderheit wegen ihres Antisemitismus schadlos zu halten.

Ein in diesem Diskurs zentrales Thema ist der Israel-Palästina-Konflikt. Er gilt in der Diskussion mit muslimischen Jugendlichen als Dreh- und Angelpunkt. Aber auch unter politisch engagierten Jugendlichen ohne Migrationshintergrund wirft dieser Konflikt drängende Fragen auf.

Es ist eine Besonderheit dieses Konflikts, dass zu ihm fast alle eine Meinung haben, ohne dafür besondere Kenntnisse für nötig zu erachten. Obwohl u. a. jüdische Israelis darin eine zentrale Rolle spielen, werden Juden generell für diesen Konflikt verantwortlich gemacht. Das öffnet die Schleusen antisemitischer Ressentiments, da zu Juden sich zu äußern, seit eh und je alle sich berufen fühlen. Alle kennen Erzählungen und Gehörtes. Diese Geschichten kennzeichnet, dass sie in der Regel nicht auf eigener Erfahrung beruhen. Jeder und jede kennt irgendeine Person, die direkt oder indirekt bereits einmal eine negative Erfahrung gemacht haben soll, die im Zusammenhang mit Juden und Israel steht. Außerhalb Israels und Palästinas zeigt sich der Nahostkonflikt also im Wesentlichen als Gerücht über den Konflikt. Im Unterschied zum Antisemitismus, der tatsächlich grundlos ist, liegt diesem Gerücht aber zumindest ein realer Konflikt zugrunde.

Gerücht und politisches Ereignis lassen sich dabei kaum voneinander unterscheiden. Deshalb verkennt die Forderung nach Trennung dieser beiden Sphären das spezifische Problem des auf Gerüchte gründenden Vorurteils: nämlich sich den Anschein des neutralen Urteils zu geben, also nicht antisemitisch, sondern sachlich-kritisch zu wirken.

Dennoch muss Politische Bildung den Versuch unternehmen, die intrinsische Verbindung von politischer Kritik und Gerücht aufzulösen. Sie hat zwischen politischen Positionierungen zum Nahostkonflikt und antisemitischem Ressentiment genau zu unterscheiden. Es wäre schon einiges erreicht, wenn sie Menschen in die Lage versetzte, ihre Kritik gegenüber der Politik des Staates Israel von ihrem antijüdischen Ressentiment zu trennen. Um letzteres völlig abzulegen, bedarf es mehr als nur eines politischen Bildungsprozesses.

Es versteht sich von selbst, dass Antisemitismus nicht ausschließlich pädagogisch bekämpft werden kann. Dafür ist die Gesellschaft auf allen Ebenen viel zu sehr damit verknüpft. Pädagogik aber kann Bildungsprozesse ermöglichen, die die Neigung der Individuen, Gerüchte in die Welt zu setzen und ihnen zu glauben, durch ihr freies, nicht an der Masse orientiertes Urteil einschränken. Damit würden die Gerüche der Gerüchteküche zumindest gedämpft.

 

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