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Geschichte verstehen – Zukunft gestalten

Materialien für den Geschichtsunterricht über die deutsch-polnischen Beziehungen 1933-1949

Kinga Hartmann (Hrsg.): Geschichte verstehen – Zukunft gestalten. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1933 – 1949. Neisse Verlag. Dresden – Wrocław 2009, 344 Seiten, 24,80 €.
Von Ingolf Seidel

Das deutsch-polnische Schulbuch „Geschichte verstehen – Zukunft gestalten. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1933 – 1949“, entstanden aus dem gleichnamigen Projekt der Sächsischen Bildungsagentur ist bereits in der zweiten Auflage erschienen. Darin drückt sich ein Bedarf in den Schulen, vor allem in der polnisch-deutschen Grenzregion, aus, das historische Verhältnis der beiden Nachbarstaaten während des Nationalsozialismus und in der Folge des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges zu thematisieren. Das Buch ist als deutsch-polnisches Kooperationsprojekt in den Jahren 2005 bis 2007 entstanden und will Lehrkräften ergänzende Unterrichtsmaterialien zu ausgewählten Aspekten der beiderseitigen Beziehungen für den Geschichtsunterricht an die Hand geben. Zu diesem Zweck werden vor allem eine verschiedenste Quellen in Form von Texten, Bildern und einer begleitenden CD-Rom, die vier Zeitzeugengespräche als Videos in beiden Sprachen enthält, angeboten. Die Quellen werden durch begleitende redaktionelle Texte eingeführt und jeweils kontextualisiert.

Zugrunde liegt dem Pilotprojekt die Arbeit deutscher und polnischer Historiker/innen im Auftrag des Bundeslandes Sachsen sowie der polnischen Nachbar-Wojwodschaft Niederschlesien (Dolny Slask). Beteiligt waren dabei Tobias Wegener vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa aus Oldenburg und auf polnischer Seite die Historiker/innen Malgorzata und Krzysztof Ruchniewicz vom Willy-Brandt Zentrum in Breslau (Wroclaw) und Kazimierz Woycicki, Direktor der Stettiner Außenstelle des Instituts für Nationales Gedenken (IPN).

Die ersten Reaktionen auf die Erstveröffentlichung in Polen und Deutschland waren durchaus zwiespältig. Sie reichten von Zustimmung, wie durch Zofia Kozlowska, der Vizepräsidentin der Polnisch Historischen Gesellschaft bis hin zu harscher Kritik, wie sie durch Boguslaw Kopka, Historiker des IPN formuliert wurde. Laut der Zeitung „Die Welt“ in ihrer Onlineausgabe vom 19. März 2008 würde man den Eindruck bekommen, „dass die deutsche Seite ihre Sichtweise und Terminologie vorgeschlagen hat und Polen sich dann den Bedingungen des deutschen Verlages angleichen musste“. So werde beispielsweise der Warschauer Aufstand der Untergrundarmee Armia Krajowa nicht erwähnt, kritisiert Kopka.

Behandelt werden in zwanzig Kapiteln in drei Teilen (1933-1939, 1939-1945 und 1945-1949) nicht nur zu erwartende und bekannte Themen wie die „Diskriminierungspolitik“ (S. 21) des nationalsozialistischen Deutschlands, der Hitler-Stalin-Pakt, die deutsche Besatzung Polens oder die Konferenz von Potsdam. Den speziellen Charakter der vorliegenden Publikation prägen neben anderen die Abschnitte zur Nationalitätenpolitik in der stalinistischen Sowjetunion, den „Polnischen Gebieten unter sowjetischer Besatzung“ oder zur „Umsiedlung Deutscher“ und deren Ansiedlung im besetzten Polen. Mit der Neuaufnahme des Kapitels „Der polnische Untergrundstaat“ wurde auf die Kritik teilweise reagiert. Auch die vermutete Zahl der Opfer des Massakers an geschätzten 14.500 polnischen Offizieren durch die Rote Armee im Jahr 1940 wurden gegenüber der ersten Auflage nach unten korrigiert. Man würde sich vor allem im zweiten Teil, der sich mit der Zeit des deutschen Überfalls auf Polen, dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen und der Zeit bis 1945 beschäftigt ein eigenständiges Kapitel zur deutschen Volksgruppenpolitik in Polen sowie vor allem zur Verstrickung der dort lebenden oder angesiedelten Deutschen in die nationalsozialistische Mord- und Vernichtungspolitik wünschen. Die späteren Vertreibungen von Deutschen würden sich erst so komplett erschließen. Dieser Aspekt wird im Kapitel „Der Vertreibungskrieg und die beginnende Besatzung Polens“ eindeutig zu kurz gewürdigt.

Der dritte Teil der Unterrichtsmaterialien greift sowohl die „Umsiedlung von Polen aus den an die UdSSR angeschlossenen Gebieten 1944-1947“ auf, als auch „Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung“ und die „Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in der SBZ bzw. DDR“. Weitere Kapitel sind den unterschiedlichen historischen Gedächtnissen und der „Vergangenheitsbewältigung“ (S. 279ff) gewidmet. Wie an anderen Stellen auch irritiert an letztgenannter Überschrift die Sprachwahl der Autor/innen in den Begleittexten. Eine eindeutige Kritik an dem Umgang mit der Geschichte in den späteren Staaten des Warschauer Paktes ist dringend notwendig. Der Umgang mit der Vergangenheit diente in der SBZ bzw. DDR zu weiten Teilen der Legitimierung von Herrschaft und zugleich wurde mit dem staatsoffiziellen Antifaschismus die ostdeutsche Bevölkerung von jeglicher Schuld und Verantwortung exkulpiert. Der Antifaschismus in der DDR war allerdings mehr denn reine Ideologie, wie es im Kapitel „Vergangenheitsbewältigung“ nahe gelegt wird. Er basierte eben auch auf der Überzeugung vieler kommunistischer und nicht-kommunistischer Überlebender der NS-Herrschaft gesellschaftliche Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus zu ziehen. Es grenzt an Geschichtsrevision, wenn man diesen Umstand verschweigt und im Gegenzug Schuldabwehr, in Westdeutschland darauf reduziert, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Deutschen ihre Vergangenheitsbewältigung selbst in die Hand nahmen, wenn dies auch kein „einfacher Prozess“ gewesen sei und es in den 50er Jahren starke „Tendenzen zur Vertuschung der Vergangenheit“ gegeben habe (vgl. S. 280).

Die Abwehr der Beschäftigung mit den deutschen Verbrechen war in beiden Gesellschaftsformationen ausgesprochen groß. Es unterschieden sich dabei vor allem die ideologischen Begründungszusammenhänge und weniger der Umstand an sich. Gerade multiperspektivischer Ansatz von historisch-politischer Bildung über den stalinistischen Staatssozialismus und dessen Verbrechen sollte in mancher Hinsicht mit einer differenzierteren Betrachtungsweise einhergehen, als es hier der Fall ist. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang auch das Fehlen von Quellenmaterial zur hochproblematischen Politik des Bundes der Vertriebenen (BdV) in der Bundesrepublik und zur Verstrickung von Teilen der BdV-Gründungsgeneration in den NS-Herrschaftsapparat.

Trotz der grundlegenden Kritik bietet das Materialienbuch gute Möglichkeiten zum Einsatz der abgedruckten Quellen im Unterricht. Eine eigenständige Konzeption des Unterrichts können und wollen diese Materialien, die auch nicht als Lehrbuch konzipiert sind, ohnehin nicht ersetzen. Es bietet sich für die Lektüre vielmehr an die Begleittexte der Autor/innen selber als zeitgeschichtliche Dokumente zu lesen, die Ausdruck einer Lesart von Geschichte sind, die ebenso wie viele vorhergehende Geschichtsinterpretationen einen ideologischen Charakter tragen.

 

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