Dialogue

Der neue Erinnerungsboom an Flucht und Vertreibung in den deutschen Massenmedien

Narrative eines Ereignisses und Elemente einer Opfererzählung

Dr. des. Maren Röger, seit Februar 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Warschau. Zuvor von 2006 bis 2009 DFG-Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dissertation über „Flucht, Vertreibung und Umsiedlung: Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989“.
Von Maren Röger

Die Zwangsmigration der Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkrieges war in der kompletten Geschichte der Bundesrepublik präsent und nie ein Tabuthema für Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffende. Auch die bundesrepublikanischen Massenmedien gedachten regelmäßig der Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen. Neben den Heimatfilmen, die die Zwangsumsiedlung und die schwierige Eingliederung der Flüchtlinge eher über Umwege thematisierten, gab es Kinofilme wie „Nacht fiel über Gotenhafen“. Dieser Film aus dem Jahr 1959 stellte den Untergang des hauptsächlich mit Flüchtlingen besetzten Schiffs „Gustloff“ in den Mittelpunkt.

Während der politischen Debatten um die Ostverträge war die Zwangsumsiedlung ebenfalls Dauerthema in der Presse. Zudem sendeten die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten immer wieder Dokumentationen über die verlorenen Ostgebiete und das historische Ereignis, so zum Beispiel den großen Dreiteiler „Flucht und Vertreibung“ aus dem Jahr 1981. Die Veränderungen im öffentlichen Umgang mit dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit zentralen Thema, zu denen es seit Ende der 1950er Jahre kam, lassen sich also besser mit den Begriffen Pluralisierung, Politisierung und Milieubindung der Erinnerungen beschreiben denn mit dem Begriff des Tabus.

Nach der Jahrtausendwende wurde nicht nur die Behauptung eines Erinnerungstabus in der deutschen Öffentlichkeit populär, sondern das historische Ereignis der Zwangsmigration war plötzlich in allen Medien vertreten. Im Anschluss an Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ im Jahr 2002 verbreiteten zahlreiche deutsche Pressemedien, darunter federführend der Spiegel, die inkorrekte These eines Tabus der Vertreibungserinnerung. Zudem avancierte das historische Ereignis Flucht und Vertreibung zu einem der prominentesten historischen Themen auf der medienöffentlichen Agenda: In den Auslagen der Buchhandlungen fanden sich Sonderausgaben von Zeitschriften wie Geo oder Damals und es erschienen vermehrt Erinnerungsbücher sowie literarische Bearbeitungen der Thematik. Bereits im Jahr zuvor zeigte sich am Beispiel der stark rezipierten mehrteiligen ZDF-Serie „Die große Flucht“ von Guido Knopp, dass der Bekanntheitsgrad der jeweiligen Medienakteure wichtig für deren Einfluss auf den erinnerungskulturellen Diskurs war.

Wie sehen aber die neueren Erzählmuster der Zwangsmigration aus? Eingangs muss gesagt werden, dass die Medien in Deutschland den Themenkomplex der Zwangsmigration der Deutschen nicht nur in unterschiedlichen Phasen mit abweichender Intensität, sondern auch in diversen Formaten und aus unterschiedlichen Perspektiven aufgreifen. Die Medien gibt es also nicht. Trotz dieser wichtigen Feststellung lassen sich zentrale Erzählmuster benennen. Gerade der Vergleich zu anderen nationalen Narrativen der Zwangsumsiedlung – etwa der polnischen oder tschechischen – kann ein fruchtbares Instrument sein, um dominante Erklärungsmuster in TV-Dokumentationen oder auch Sehgewohnheiten hinsichtlich der Bilderverwendung offenzulegen.

Für die Begriffe und die Betroffenen- und Todesopferangaben lässt sich für die deutschen Medien festhalten, dass die bis 1989 herausgebildeten Redepraxen erstaunlich beharrlich verwendet wurden. Dominant blieb der Begriff Flucht und Vertreibung, obwohl er ein nicht unproblematischer Sammelbegriff ist. In ihm werden die von den NS-Funktionären zu spät erlaubte Phase der Flucht, die Phase der sogenannten wilden und oft gewaltsamen Vertreibungen, mit denen unter anderem Polen und die Tschechoslowakei Fakten schaffen wollten, und die Phase der geordneten Umsiedlungen – die Willkür trotzdem nicht ausschloss – zusammengeschmolzen. Und auch an der überhöhten und ungenauen Todesopferzahl von zwei Millionen hielten die deutschen Medien im Großen und Ganzen fest – teils aus geschichtspolitischen Gründen; größtenteils aber mangels Recherchen, wobei die Ungenauigkeit und anscheinende Unbedarftheit im Umgang der Medien mit Betroffenen- und Todesopferzahlen frappierend war. Schließlich hatten jüngst Historiker wie Ingo Haar darauf hingewiesen, dass es unter anderem für den Umgang mit den an der Zwangsumsiedlung beteiligten Nachbarstaaten nicht unproblematisch ist, wenn ihnen auch die Todesopfer für die von den Nationalsozialisten zu spät in Gang gesetzte Fluchtbewegung angelastet werde.

Ein Ergebnis zu den historischen Narrativen der Zwangsmigration der Deutschen ist, dass die dominanten Rahmungen weiterhin – trotz des Falls des ‚Eisernen Vorhangs‘ und der EU-Erweiterung – aus der Sicht der jeweiligen sprachnationalen Gruppe vorgenommen wurde. In Polen beispielsweise begannen die Erzählungen stets im Jahr des deutschen Überfalls 1939, womit die Chronologie und Kausalität der historischen Ereignisse betont wurde. In den bundesrepublikanischen Medien indessen begannen die Erzählungen zumeist mit dem Vormarsch der Sowjetarmee und setzten damit mit dem Zeitpunkt ein, als der Krieg sich gegen die Deutschen wendete. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten mit seinen verheerenden Gewaltexzessen gegenüber den Zivilbevölkerungen wurde im deutschen Geschichtsfernsehen zumeist erst in einem zweiten Zugriff in die Erzählung über Flucht und Vertreibung der Deutschen einbezogen. Hinsichtlich der Bilder, die die Erinnerung an dieses historische Ereignis strukturieren, kann gesagt werden, dass Bildredakteure mit dem Motiv des Trecks aus Ostpreußen durch Eis und Schnee eines der spektakulärsten Motive der Zwangsmigration bevorzugten. Zudem wurden Gräuelbildern und Mutter-Kind-Motive häufig verwendet, um ein Bild der unschuldigen Opfer zu vermitteln.

In den analysierten Medienveröffentlichungen waren also Elemente einer deutschen Opfererzählung zu beobachten. So führte zum Beispiel die Inszenierung von Zeitzeugen im deutschen Geschichtsfernsehen häufig zu einer Entlastungserzählung. Diese These stützt sich maßgeblich auf drei Aspekte: Erstens auf das verstärkte Auftreten einer bestimmten Altersgruppe, damals vorwiegend im Kindesalter und somit politisch nicht verantwortlich. Zweitens auf die mangelnde Kontrastierung mit der Leiderzählung der anderen Seite. So kamen die nicht-deutschen Zeitzeugen in den vielen neueren Dokumentationen nicht primär als Opfer der Deutschen, sondern als Zeugen der Tat zu Wort, weshalb hier kaum ein Korrektiv zur emotionalen Opfererzählung gebildet wurde. Drittens basierte die Entlastungserzählung auf der unpolitischen Selbst- und TV-Inszenierung von Frauen. Obwohl die Historikerin Elizabeth Harvey Frauen als „Agents and Witnesses of Germanization“ (2003) in den östlichen Territorien und somit als Bystander, Profiteurinnen und Täterinnen beschreibt, wurden sie im neueren deutschen Mediendiskurs hauptsächlich als unschuldige Opfer gezeigt. Zentrales Thema waren hier die Massenvergewaltigungen durch die Sowjetarmee. Des Weiteren fügte sich beispielsweise die egalisierende Konstruktion von deutschen und polnischen Vertreibungsopfern in eine allgemeine Entwicklung, Deutschland ebenso als Kriegsopfer zu sehen wie andere Nationen, und darüber teilweise Täter-Opfer-Differenzen für zweitrangig zu erklären.

Dennoch sollte man von allzu verallgemeinernden Thesen Abstand nehmen. Weder kann davon gesprochen werden, dass alle Medien die Zwangsmigrationsthematik skandalisieren würden – wie hinsichtlich der „Zentrum gegen Vertreibungen“-Debatte manchmal behauptet wurde – noch, dass alle Medien in der Thematisierung von Flucht und Vertreibung eine Opferzählung der Deutschen präsentieren würden. Viele Medien kritisierten nämlich auch die Entlastungserzählungen und somit kann nicht von einem überall verbreiteten Opferdiskurs die Rede sein. Allerdings öffneten einzelne (Mainstream-)Medien immer wieder die Tür zur geschichtspolitischen Rechten – durch Zitation einschlägiger Autoren, Befragung belasteter Zeitzeugen oder durch die Wiederholung bestimmter Narrative. Diese mangelnde Abgrenzung zur Rechten ist ein fortwährender Ballast für das Thema Flucht und Vertreibung und einer der Gründe – neben politischen Reflexen, die aus der Zeit der Ostvertragsdiskussionen stammten –, weshalb Teile der Gesellschaft das Thema bis heute als per se rechts und revisionistisch wahrnehmen.