Dialogue

Umsiedlungen, Evakuierungen, Flucht und Vertreibungen von Deutschen 1939-1949

Eva Hahn, gebürtige Pragerin, seit 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, studierte an den Universitäten Prag, Stuttgart und an der London School of Economics, dort 1981 Promotion, 1981-1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Collegium Carolinum, Forschungsstelle für die böhmischen Länder, in München. Verfasserin zahlreicher Studien und Abhandlungen zur Geschichte des politischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert und zu den deutsch-tschechischen Beziehungen.
Von Eva Hahn

In den Jahren 1939-1949 verloren rund elf Millionen zuvor östlich der heutigen deutschen Grenzen lebenden Deutschen ihre Heimat und fanden im heutigen Deutschland Zuflucht. Sie verließen ihre jeweiligen Wohnorte zum Teil aus freiem Entschluß, zum Teil gezwungenermaßen, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Der Vorgang kann daher auf keinen Fall als freiwillige Migration betrachtet werden.

Begonnen hatte diese in Deutschland oft unter dem Begriff ‚Vertreibung‘ subsumierte Zwangsmigration mit einer Rede Adolf Hitlers am 6. Oktober 1939. Darin wurden nationalsozialistische Umsiedlungspläne für deutsche Minderheiten im östlichen Europa angekündigt. Hitler nannte die Minderheiten „nichthaltbare Splitter des deutschen Volkstums“ und erklärte, dass es „zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens“ gehöre, Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen. Bei der Umsetzung dieser Ankündigung wurde rasch klar, dass diese Umsiedlungen zum „Aufbau der neuen Ostgebiete zu einem deutschen Kulturraum“, wie damals die versuchte Germanisierung besetzter Gebiete genannt wurde, beitragen sollten.

Angesichts dieses Geschehens und unter dem Eindruck, wie das NS-Regime die deutschen Minderheiten in der Tschechoslowakei und in Polen 1938/39 auf dem Weg zur Entfesselung des Krieges instrumentalisiert hatte, begannen in der freien internationalen Öffentlichkeit einschließlich regierungsnaher Kreise Großbritanniens schon im Winter 1939/40 Diskussionen über eventuelle Nachkriegsumsiedlungen der deutschen Bevölkerung aus den im Osten an Deutschland angrenzenden Ländern.

Bis zur Kriegswende 1943 wurden mehr als eine Million Deutsche durch die NS-Behörden als ‚Umsiedler‘ in allerlei ihnen fremden Gebieten des östlichen Europa zerstreut. Als sich die Wehrmacht in Folge ihrer Niederlagen zurückzuziehen begann, verloren weitere Millionen Deutsche im östlichen Europa einschließlich der in den östlichen Provinzen des Großdeutschen Reiches bis dahin beheimateten Deutschen ihre Heimat: Diesmal nannten es die NS-Behörden ‚Evakuierungen‘ und bezeichneten die Betroffenen als ‚Rückgeführte‘ oder als ‚Flüchtlinge‘.

Die Betroffenen wurden mit Zügen oder in großen Trecks auf den Straßen in westlich gelegene Teile des Großdeutschen Reiches geleitet. Manche von ihnen flüchteten freiwillig, andere wurden von den NS-Behörden zwangsevakuiert. Teilweise wurden ganze Dörfer und Städte geräumt, so daß in den letzten Kriegswochen wohl über zehn Millionen Deutsche unterwegs waren. Dass diese Räumungspolitik rasch zu einer humanitären Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes führte, war den NS-Behörden bekannt, nichtsdestoweniger setzten sie ihre Maßnahmen nicht aus. Die Kriegshandlungen, das Elend der Obdachlosigkeit, Hunger sowie Krankheiten führten vielfach dazu, dass namentlich die Schwächsten der Evakuierten, Frauen, Kinder und alte Menschen ihr Leben verloren.

Am Kriegsende befanden sich manche der Evakuierten, unter ihnen auch die zuvor Umgesiedelten sowie die erst im Folge der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik ins östliche Europa Zugewanderten, im heutigen Deutschland, andere in Österreich und in der Tschechoslowakei, von wo sie nach und nach meist weiter nach Deutschland transportiert wurden. Die aus der besetzten Sowjetunion evakuierten Deutschen wurden von den sowjetischen Behörden zwangsweise repatriiert, und kleinere Gruppen der aus Südosteuropa zuvor umgesiedelten oder evakuierten Deutschen kehrten nach dem Kriegsende in ihre Heimat zurück. Die Rückkehrer fanden nirgendwo jedoch ihre alte Heimat so vor, wie sie sie verlassen hatten, und viele von ihnen übersiedelten früher oder später meist in die alte Bundesrepublik.

Von besonderen Folgen der Räumungspolitik waren jene Gebiete betroffen, die während des Krieges zum Großdeutschen Reich und danach zu Polen, der Tschechoslowakei, und zum Teil zu Jugoslawien gehörten. Dort war ein verwaltungsloser Raum entstanden, in dem noch in den ersten Nachkriegswochen und -monaten Willkür und Gewalt herrschten, bis nach und nach zumindest eine rudimentäre staatliche Verwaltung aufgebaut werden konnte. Da die Umsiedlungspläne der alliierten Großmächte bekannt waren, kam es vor allem in Polen und in der Tschechoslowakei zu willkürlichen gewaltsamen Vertreibungen und Misshandlungen von Deutschen, die erst zwischen dem Sommer und Winter 1945 unterbunden werden konnten.

Entsprechend dem im Herbst 1945 erstellten Plan des Alliierten Kontrollrates wurden im Jahre 1946 und zum geringen Teil zwischen 1947 und 1949 unter der administrativen Kontrolle der alliierten Regierungen Zwangsumsiedlungen von rund 4,8 Millionen Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Ungarn durchgeführt. Sie wurden in überwachten Transporten größtenteils in die amerikanische, britische oder in die sowjetische Besatzungszone gebracht, wo sie nach und nach mit der Unterstützung der Besatzungsmächte sowie der entstehenden deutschen Behörden ihre neue Heimat suchen und aufbauen konnten. Auch diese Deutschen mussten ihre gesamte Habe zurücklassen und mittellos einen Neuanfang in einer ihnen weitgehend fremden Welt suchen.

Ausführlich dazu siehe das demnächst erscheinende Buch:

Eva Hahn/ Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010 (http://www.schoeningh.de/katalog/titel/978-3-506-77044-8.html)