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„Das historische Narrativ des Anderen kennen lernen“

Das erste israelisch-palästinensische Schulbuch

Von Markus Nesselrodt

Das Schulbuch „Das historische Narrativ des Anderen kennen lernen – Palästinenser und Israelis“ macht es sich zur Aufgabe, die Geschichte des Nahostkonflikts aus den Perspektiven der Konfliktparteien darzustellen. Das 2003 veröffentlichte Buch versteht sich dabei explizit als „Beitrag zur Verständigung in Palästina und Israel“.

Ausgangspunkt für die Erstellung des Schulbuches war die Feststellung, frühere israelische und palästinensische Geschichtsbücher würden die jeweils andere Seite komplett ausblenden. Folglich diene der Geschichtsunterricht stets nur zur Legitimation des eigenen Handelns, während die andere Seite ignoriert und/oder dämonisiert werde. Einen Ausweg sahen die Herausgeber vom israelisch-palästinensischen Friedensforschungsinstitut PRIME in einem Geschichtsbuch, welches keine Erzählung favorisiert. Dabei ist die Überzeugung leitend, „dass die Überwindung von Feindschaft in den Köpfen beginnen muss und dass die Grundlagen für Verständigung in der Schule gelegt werden müssen“. Demnach sei gegenseitiges Verständnis nur durch Kenntnis der jeweils anderen Narration möglich.

Im Jahre 2009 erschien das israelisch-palästinensische Schulbuch auch auf Deutsch. Inwiefern kann es für die Bildungsarbeit in Deutschland zum Nahostkonflikt eine Bereicherung darstellen? Ein immenser Vorteil dieser Publikation liegt in seiner Offenheit. Zu keiner Zeit wird behauptet, dass es nur die eine geschichtliche Wahrheit gebe. Stattdessen wird ein multiperspektivischer Ansatz verfolgt, der davon ausgeht, dass es lediglich unterschiedliche Interpretationen der Vergangenheit geben kann. Gerade in Zeiten des Konflikts sei es umso schwieriger, gegenseitiges Verständnis zu fördern, so die Autoren. Die drei israelischen und drei palästinensischen Lehrer bezeichnen das Schulbuch folglich auch als „pädagogisches Experiment“. Bei allen Zweifeln sind die Autoren aber davon überzeugt, dass dem schulischen Unterricht eine wichtige Rolle beim Friedensprozess in Israel und Palästina zukomme.

Der Aufbau des Buches orientiert sich an drei zentralen Ereignissen. Der erste Abschnitt behandelt die Balfour-Deklaration von 1917 und die Reaktionen auf diese Zäsur. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Unabhängigkeitskrieg und der Staatsgründung Israels bzw. mit Vertreibungen von Palästinenser/innen im Jahr 1948. Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich der Zeit vom Sechs-Tage-Krieg 1967 bis zur ersten Intifada (1987-1989).

Die jeweiligen Narrative sind auf zwei Spalten aufgeteilt. Auf der linken Seite steht die israelische, auf der rechten Seite die palästinensische Perspektive auf die Geschichte. In der Mitte wurde Platz für die eigenen Anmerkungen der Lernenden gelassen. Auffällig ist, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die Gestaltungsweise der Texte voneinander abweicht. So wechseln sich historische Überblickstexte mit Auszügen aus Quellentexten ab. Die zahlreichen Karten ergänzen die Texte nicht nur, sondern sind immer auch Ausdruck einer Geschichtsinterpretation, die eine eigene Analyse wert ist. Tabellen und Photographien untermauern zusätzlich die Erzählungen. Abgeschlossen werden die Kapitel jeweils mit Glossaren, in denen die Schwierigkeit kontrastiver Perspektiven sichtbar wird.

So wird in der palästinensischen Narration unter dem Stichwort „Zionismus“ eine „imperialistische Bewegung [verstanden], die die Juden als Nation postulierte und bei ihnen das Gefühl einer ethnischen Einheit erzeugte“. In der israelischen Erzählung ist der Zionismus dagegen die „Nationalbewegung des jüdischen Volkes“, deren Grundlage die Sehnsucht nach der „Rückkehr des Volkes Israel in sein Land“ war. Ein weiteres Beispiel ist das Jahr 1948. In Israel wir es als Jahr der Unabhängigkeit bezeichnet, während es für die Palästinenser den Beginn der Katastrophe (arabisch al-Naqbah) bedeutet. In den Klassenzimmern Deutschlands führen diese verschiedenen Erzählungen häufig zu Konflikten. Dabei ist auffällig, wie sehr auf allen Seiten der Anspruch auf die eine „wahre“ Geschichte leitend ist. Gerade hier kann das Buch einen wertvollen Beitrag zu mehr Differenzierung und gleichberechtigter Kommunikation beitragen.

Auf 50 Seiten die Geschichte eines komplexen Konfliktes aus zwei Perspektiven darzustellen, die sich häufig radikal widersprechen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. In vielerlei Hinsicht kann man sie aber als gelungen bezeichnen. Denn das Schulbuch hat den Vorteil, dass es durch seine offene Perspektivität den Vorwurf der Einseitigkeit umgeht, dem sich jeder um Neutralität und Objektivität bemühte Text stellen muss. Hier wird jedoch aus der Not eine Tugend gemacht. Auch durch die graphische Gestaltung bleibt stets Raum für eigene Anmerkungen und Gedanken. Zu keiner Zeit formuliert das Schulbuch den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das ist ihm hoch anzurechnen und so bleibt nur zu hoffen, dass es von vielen Menschen gelesen werden wird.

Hier können Sie das Schulbuch als pdf-Datei kostenlos herunterladen.

Podcast über das israelisch-palästinensische Schulbuch

Im Gespräch mit dem WDR berichtet Achim Rohde, Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut (GEI) für internationale Schulbuchforschung, über das Projekt eines gemeinsamen israelisch-palästinensischen Schulbuchs. Das israelisch-palästinensisch Friedensforschungsinstitut PRIME hatte sich an das GEI gewandt, um ein multiperspektivisches Buch für den schulischen Unterricht zu verfassen. Im Kern geht es bei diesem Buch darum, die israelische und palästinensische Geschichtserzählung kontrastiv nebeneinander zu stellen und gleichzeitig Raum für eigene Interpretationen zu lassen.

Rohde stellt dar, dass das Schulbuch weder vom israelischen Bildungsministerium noch von der palästinensischen Autonomiebehörde für den Unterricht freigegeben wurde. Zu sehr, so Rohde, dominierten in den Schulen das zionistische Narrativ Israels bzw. die nationalistische Erzählung der Palästinenser. Trotz des Widerstandes von Politikern, Eltern und anderen wird das Buch an einigen wenigen Schulen in Israel und in den palästinensischen Gebieten eingesetzt. Ob es seinen Status als Nischenprodukt verlieren wird, hänge, so Rohde, stark vom Engagement der Schulleitung, der Lehrenden und der Eltern ab.

Hier finden Sie den Link zur knapp 8-minütigen Audiodatei.

Das israelisch-palästinensische Weblog Bitterlemons.org

In diesem Zusammenhang bietet sich ein Besuch des englischsprachigen Weblog Bitterlemons.org an. Dabei handelt es sich um aktuelles Beispiel für die perspektivische Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt. Nachrichten und Ereignisse werden jeweils aus der Sicht eines Palästinensers und eines Israelis kommentiert. Neben den Artikeln findet sich im Downloadbereich zudem eine umfangreiche Sammlung kostenlos zugänglicher Originaldokumente wie Resolutionen, Deklarationen, Reden und Friedenspläne zum israelisch-palästinensischen Konflikt.