Edith Stein, Papa Weidt und Janusz Korczak
Von Heike Deckert-Peaceman
In den letzten Jahren scheint der Holocaust ein Thema für immer jüngere Kinder zu werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Elternhäuser, Kindergärten, Schulen, Universitäten und der Buchmarkt reagieren auf diese Entwicklung. Während 1986 das Erscheinen des Bilderbuches Rosa Weiss in Deutschland eine heftige Kontroverse nicht nur über die Qualität des Werkes auslöste, bleiben solche Reaktionen heutzutage aus. Zum einen war die mehrheitliche Kritik an Rosa Weiss sicherlich berechtigt. Die Verwendung des mittlerweile vergriffenen Werkes beispielsweise in der Grundschule ist nicht empfehlenswert.
Zum anderen sind die Fragen, die mit der Auseinandersetzung über Rosa Weiss gestellt wurden, jedoch auch heute noch aktuell: Ist der Holocaust in Bilderbüchern darstellbar? Welche Texte, welche Bilder können jungen Kindern zugemutet werden? Welche ersten Vorstellungen über Nationalsozialismus und Holocaust können Bilderbücher vermitteln?
Der Verlag Butzon & Bercker, spezialisiert auf christlich-religiöse Literatur, gibt seit einigen Jahren Bilderbücher zum Thema Holocaust für Kinder im Vor- und Grundschulalter heraus. Alle bisher erschienenen Werke Edith Stein (1997), Papa Weidt (1999, 2. Aufl. 2001) und Janusz Korczak (2000) wurden von dem Ordensbruder Lukas Ruegenberg (Benediktinerabtei Maria Laach), einem Schüler von Karl Schmidt-Rottluff, illustriert. Für das Frühjahr 2002 ist ein entsprechendes Bilderbuch nach dem Roman Jakob der Lügner von Jurek Becker angekündigt.
Zunächst das bekannteste und erfolgreichste Buch der Reihe, Papa Weidt, empfohlen ab 6 Jahren: Autorin ist Inge Deutschkron, die mit der Geschichte über Otto Weidt auch einen Teil ihres Überlebens als Jüdin im Berliner Versteck schildert. Im Mittelpunkt des Buches steht jedoch der blinde Otto Weidt, der in seiner Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Straße versucht, nicht nur blinde Juden vor der Deportation zu bewahren. Mit großformatigen bunten Aquarellen und kleineren Federzeichnungen wirkungsvoll und sensibel von Ruegenberg illustriert, wird Kindern anschaulich eine Geschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus erzählt.
Wie schon der Untertitel Er bot den Nazis die Stirn impliziert, wird Otto Weidt als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten geschildert. Mit List gelingt es ihm immer wieder, seine jüdischen Mitarbeiter zu retten. Einmal holt er sie sogar aus dem Wagen, der sie abgeholt hatte, wieder heraus. Dem Triumphzug durch die Berliner Straßen, angeführt durch Otto Weidt, wird eine Doppelseite Illustration gewidmet. Manche Personen am Straßenrand klatschen den Vorbeigehenden zu, andere schauen betreten weg. Gibt dieses Bild realistisch die damalige Szene wieder? Auf jeden Fall vermittelt es Kindern ein Bewusstsein für Handlungsspielräume, so begrenzt sie auch immer waren. Die Tatsache, dass jemand, obwohl er selber behindert war, solche Spielräume genutzt hat, gibt ihnen Hoffnung bei aller Trostlosigkeit, die eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust bedeutet.
Das Bilderbuch beschränkt sich nicht auf die Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden, sondern erzählt auch von den letzten Stadien des Vernichtungsprozesses – eine besondere Anforderung angesichts des Alters der Leser. Otto Weidt war es schließlich nicht gelungen, alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor der Deportation zu bewahren. Nur einige hatte er verstecken können, bis er verraten wurde. Bis auf Inge Deutschkron wurden auch alle Versteckten deportiert. Dem Abtransport vom Bahnhof Grunewald ist die zweite Doppelseite Illustration gewidmet. Trotz der bunten Farben vermittelt das Bild die Grausamkeit der SS-Leute und die Hoffnungslosigkeit der Opfer.
Otto Weidt, so wird im Buch erzählt, fährt sogar nach Auschwitz, um einen seiner Schützlinge, Alice, zu befreien. Ruegenberg nimmt das bekannte Tor des Stammlagers als Hintergrund für die Szene, in der Weidt versucht, die SS zu bestechen. Schließlich gelingt Alice die Flucht. Hier entfernt sich das Buch weit vom historischen Kontext. Otto Weidt fand seine Geliebte Alice (wird im Buch nicht angesprochen) letztlich nicht in Auschwitz, sondern in einem Nebenlager des KZ Groß-Rosen in Christianstadt.
Das Buch endet mit einer Gedenktafel, die heute in der Rosenthaler Straße an Otto Weidt erinnert: „Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben." Diese Botschaft macht das Werk zu einem besonders geeigneten Buch für jüngere Kinder. Es schafft einen ersten Zugang zum Thema Holocaust mit einer Perspektive, die auch Hoffnung vermittelt. Gleichzeitig erhalten die Kinder Informationen über den historischen Hintergrund, beispielsweise über die verschiedenen Verordnungen, die das Leben von Juden immer mehr einschränkten (in den Innenseiten des Einbands). Die ehemalige Blindenwerkstatt ist heute eine Gedenkstätte, die häufig von Schulklassen besucht wird. Papa Weidt wurde schon mehrfach mit positiver Resonanz im Grundschulunterricht eingesetzt. Dennoch darf es nicht die einzige Geschichte bleiben, die die Kinder über die Zeit des Nationalsozialismus hören. Leider gab es nur wenige Papa Weidts!
Die beiden anderen Bilderbücher des Illustrators, Edith Stein und Janusz Korczak, erreichen nicht die Qualität der Geschichte über den blinden Retter. Eine Begründung könnte in der Nähe der Autoren zum dargestellten Kontext liegen. Während Inge Deutschkron Otto Weidt aus der eigenen Erinnerung schildern kann, sind Carla Jungels (Edith Stein) und Rupert Neudeck (Janusz Korczak) auf Überlieferungen angewiesen. Hinzu kommt, dass sich um beide Figuren Legenden ranken und bestimmte Phasen ihres Lebens nicht gut dokumentiert sind.
Das Buch über Korczak hat einen deutlich höheren Textanteil und bietet sehr viel komplexe Information. Lassen sich das Leben und Werk des Pädagogen und Kinderarztes sowie die Geschichte des Warschauer Ghettos komprimiert in einem Bilderbuch erzählen? Die einzelnen Szenen wirken z.T. zusammenhanglos aneinander gereiht. Der Ghettoalltag mit Hunger, Krankheit und Mord, in Wort und Bild dargestellt, vermittelt trotz der Leichtigkeit der Aquarelle das pure Grauen. Wieder begegnet uns ein Deportationsbild auf einer Doppelseite, diesmal mit Korczak und den Kindern. Am Ende bleibt nur das traurige Schicksal im Vernichtungslager Treblinka. Die Altersangabe mit 6 Jahren scheint hier besonders unpassend. Für ältere Grundschüler hingegen bietet die Geschichte Gesprächsanlässe, die jedoch weiterer Informationen bedürfen.
Das dritte hier vorgestellte Bilderbuch über Edith Stein wurde vor den anderen veröffentlicht und wirft die meisten Fragen auf. Die Geschichte der zum katholischen Glauben übergetretenen und in Auschwitz ermordeteten Jüdin wird im Rahmen einer christlichen Erziehung erzählt. In Wort und Bild wird folgende Szene geschildert, in der Edith betet: „(…)‚Lieber Jesus, meinen jüdischen Brüdern und Schwester geht es schlecht. Ich will ihnen helfen und mit dir ihr Kreuz tragen. Zeige mir, was ich tun soll.’ Jesus sagt: ‚Edith, komm und gehe an meiner Hand!’ Da versteht Edith, dass sie ins Kloster der Karmelitinnen eintreten soll."
Besonders problematisch ist das Ende bei der Selektion in Birkenau: „‚Ab unter die Dusche!’, brüllt einer der Aufseher laut." Aber Edith bleibt ruhig und wartet auf das große Fest ohne Ende bei Jesus, so steht es im Bilderbuch geschrieben. Über der Einfahrt zur Rampe erhebt sich ein rotgelber Ball, der diesen Inhalt bildlich darstellt. Welche Vorstellungen über den Holocaust entwickeln sich bei Kindern, für die dieses Buch ab dem Alter von 4 Jahren (!) empfohlen wird? Welche Deutungen werden hier für den Massenmord an den europäischen Juden angeboten? Auschwitz wird hier als christliches Symbol neu kontextualisiert. Parallelen kann man u.a. im Stammlager mit der praktizierten Heiligenverehrung (Maximilian Kolbe) entdecken. Hier wird ein religiöser Sinn in die Völkermordpolitik hineingedeutet, der historisch-politisches Lernen eher verhindert als fördert. Gerade weil im Vorschul- und Grundschulalter politische und moralische Haltungen angelegt werden, ist der Einsatz dieses Bilderbuchs in Schule und Elternhaus abzulehnen.
Auch in Edith Stein findet sich das bekannte Deportationsbild auf der Doppelseite. Durch die Illustrationen von Ruegenberg werden visuelle Verbindungen zwischen den drei vorgestellten Geschichten geschaffen. Dadurch werden sie aber dekontextualisiert. Bahnhof Grunewald, Warschauer Ghetto und das Lager Westerbork in Holland werden so zu einem Ort, ohne dass die vielfältigen Differenzierungen zum Nachdenken anregen können. Kinder können viel komplexer denken, als ihnen hier angeboten wird.
Bilderbücher zum Thema Holocaust – das ist und bleibt eine hohe Herausforderung. Nur manchmal, wie in Papa Weidt, scheint dieses zu gelingen.
Diese Rezension erschien erstmals im Newsletter 22 (Frühjahr 2002) des Fritz-Bauer-Instituts: http://www.fritz-bauer-institut.de/rezensionen/nl22/deckert-peaceman.htm
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- 10/02/2010 - 14:00