Judenbilder in deutschen Schulbüchern
Von Ingolf Seidel
Wer Schulbücher für das Fach Geschichte im Hinblick auf die Darstellung von Juden in Deutschland durchsieht, dem können manche Schauer über den Rücken laufen. In einem Buch aus der Schulbuchreihe "Wege durch die Geschichte" finden sich beispielsweise Kapitelüberschriften wie „Juden – spitzer Hut und gelber Fleck“, in einem Band der Reihe Zeitlupe heißt es: „Abgestempelt als Feinde – Juden im Kaiserreich“.
Noch drastischere Formulierungen lassen sich in dem Buch "Wir machen Geschichte" entdecken, auf das Wolfgang Geiger hinweist. Dort wird ausführlich der Leidensweg der Juden im Mittelalter dargelegt. Über den von Friedrich II. verliehenen Status der »Kammerknechtschaft« für die Juden kann man lesen: „Da mit der Kammer das kaiserliche Schatzamt gemeint war, bedeutete dies, dass Juden als unfreie Finanzobjekte des Reiches betrachtet wurden, die vor allen Dingen hohe Steuern zahlen mussten. Um diese aufbringen zu können wurden die Juden noch mehr als früher und schließlich gänzlich zu Geldverleihern.“ Funktioniert das Schulbuch als eine Quelle für antisemitische Bilder und Stereotypen?
Schon länger werden die Bilder kritisiert, die Geschichtsbücher vom Judentum vermitteln. Die historische Rolle der Juden verkürzen sie viel zu oft auf die von Opfern und gesellschaftlichen Außenseitern. Bereits Chaim Schatzker belegte dies in seinen ersten Analysen von Geschichtsbüchern im Jahr 1963. In den 80er Jahren kam die deutsch-israelische Schulbuchkommission zu demselben Schluss. Geändert aber hat die Kritik wenig. Das Leo Baeck Institut hat 2003 eine ausführlich Orientierungshilfe für Lehrpläne und die Schulbucharbeit herausgegeben, um stärkeren Einfluss auf die Qualität von Lehrpublikationen zu nehmen. Diese „Orientierungshilfe“ wurde von der Kultusministerkonferenz ausdrücklich empfohlen.
Zwar enthalten heutige Geschichtsbücher mehr Quellenmaterial, das auch jüdische Stimmen zu Wort kommen lässt und so Möglichkeiten für einen Perspektivwechsel bietet. Doch weiterhin findet sich das Gros an Informationen über Juden in Zusammenhang mit der Verfolgungsgeschichte und vor allem mit der Shoah. Dabei wird die Perspektive häufig auf den nationalen deutschen Rahmen verengt. Eine europäische Dimension von jüdischem Leben und Kultur wird in den Geschichtsbüchern nicht aufgezeigt.
Der Impuls, die Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche und ihre Helfer zu einem zentralen Thema der Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Geschichte zu machen, ist dabei grundsätzlich positiv zu bewerten. Aber die aktuell gewählte Herangehensweise läuft darauf hinaus, einen quasi zielgerichteten Eindruck von jahrhundertelanger jüdischer Verfolgung zu zeichnen, die letztlich fast zwangsläufig in den Todesfabriken von Auschwitz, Sobibor und Treblinka zu enden scheint. Diese Darstellung ist irreführend.
Denn obwohl der Antisemitismus die europäische Geschichte wie ein roter Faden durchzieht, war (und ist)das Verhältnis von Nicht-Juden und Juden komplex. Die Phasen geistiger Auseinandersetzung und gegenseitiger Befruchtung ausführlicher darzustellen und auch der Geschichte der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert Platz einzuräumen, sind bereits seit langem Forderungen an die Schulbuchverlage.
Natürlich muss dargestellt werden, wie zentral der Antisemitismus für die NS-Ideologie war. Problematisch wird es aber, wenn der Eindruck entstehen kann, als sei die Shoah eine beinahe zwangsläufig anmutende Folge des modernen Antisemitismus gewesen. Die Vernichtung des europäischen Judentums hatte den Antisemitismus – auch in seiner spezifisch deutschen Ausprägung – zur unabdingbaren Voraussetzung. Sie ging jedoch in ihrer Totalität und Konsequenz weit über den klassischen Antisemitismus hinaus. Damit wird die Shoah zum Zivilisationsbruch und es stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Legitimität eines in der Aufklärung wurzelnden Denkens.
Dies sollten Schulbücher thematisieren, auch wenn die Gesamtdimension in diesem Bildungsmedium kaum vermittelbar erscheint. Zudem wäre es eine Aufgabe in Schulbüchern, ein Wissen über Juden zu vermitteln, das sie nicht nur zu Objekten der Geschichte reduziert, sondern sie als tätige Subjekte zeigt. Dazu können unter anderem auch Präsentationen der vielfältigen Formen von jüdischem Widerstand gegen die deutsche Vernichtungspolitik gehören.
Grundlegend richtig stellte der Geschichtsdidaktiker Wolfgang Marienfeld fest, dass sich in den Schulbüchern das Weltbild der jeweiligen Zeit ausdrücke. Das Schulbuch ist mehr als nur ein einzelnes Bildungsmedium. Vielmehr repräsentieren Schulbücher das gesellschaftliche Wissen, das über ein Thema vermittelt werden soll. Damit setzt das Schulbuch auch Maßstäbe, was zu bestimmten Themen als sagbar und erwünscht gilt. Schulbücher beeinflussen gesellschaftliche Diskurse und sind zugleich deren Ausdruck. Sie spiegeln das Verhältnis der deutschen, nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit wider.
Geschichtsbücher zeigen, welche Schwierigkeiten eine Gesellschaft hat, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und wie schwer sie sich bis heute damit tut, das Verhältnis zum Judentum zu bestimmen. Sie belegen auch, wie stark aktuelle Diskurse von antisemitischen Stereotypen durchzogen sind, selbst dort, wo gegenteilige Inhalte kommuniziert werden sollen.
Bis heute werden Juden in Schulbüchern weiterhin häufig als „das Fremde“ dargestellt und auf ihre Religion reduziert. Gleichzeitig richten die Lehrbücher generell den Blick schwerpunktmäßig noch immer auf eine Nationalgeschichte, in der ethnische Homogenität unabdingbar scheint. Auch das Judentum wird durch diese Brille betrachtet. Ein Begriff von Judentum, der dieses weder auf seine religiöse noch seine aktuelle nationale Komponente, den Staat Israel, reduziert, scheint darin kaum einen Platz zu haben. Dementsprechend wird weder die jüdische Aufklärung, die Haskalah, und damit ein säkulares Judentum, noch der Zionismus als Nationalbewegung behandelt. Die Gründung des Staates Israel wird in der Regel verkürzend als Folge der Shoah dargestellt, um Israel später lediglich als Problemfall im Rahmen des Nahostkonflikts zu erwähnen.
Für viele Kinder und Jugendliche stellen der Religions-, der Ethik- und der Geschichtsunterricht diejenigen Fächer dar, in denen sie mit dem Thema Judentum in Kontakt treten. Umso problematischer, dass ihre Schulbüchern ihnen stereotype, bestenfalls verkürzte Bilder von jüdischer Geschichte, Kultur und Religion vermitteln. Sicherlich hat das Schulbuch einen Teil seiner zentralen Stellung in der Unterrichtsvorbereitung an die sogenannten Neuen Medien eingebüßt. Dennoch stellt es weiterhin ein wichtiges Medium für den Unterricht dar. Durch die noch in vielen Bundesländern vorhandene offizielle Zulassung hat das Schulbuch für Lehrkräfte und Schüler/innen zudem auf der formalen Ebene einen stark normsetzenden Charakter.
Die heutige Darstellung von Juden und Judentum aber lehrt uns wesentlich mehr über die Haltungen der Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit und über die Beständigkeit von Ressentiments in gesellschaftlichen Diskursen als über das Judentum selbst. Die Forderung nach einem idealtypischen Schulbuch scheint schwer erfüllbar. So wird es wahrscheinlich einer zunehmenden Anzahl an Grauer Literatur, also nicht offiziell zugelassenen Medien, überlassen bleiben, andere Sichtweisen in den Diskurs einzubringen.
Der Niederschlag, den die Kompetenzorientierung – die sonst durchaus kritisch diskutiert werden kann- in den Neufassungen der Lehrpläne findet, eröffnet gleichzeitig mehr Möglichkeiten bei der Definition der Inhalte. Damit kann ein Thema wie „Jüdisches Leben“ sehr viel offener im Unterricht behandelt werden. Zudem wächst damit die Bedeutung von Unterrichtsmaterial in Gestalt von Quellensammlungen neben dem klassischen Schulbuch. In letzter Konsequenz wird es Aufgabe von Lehrkräften der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit sein, ein differenziertes Bild von jüdischer Geschichte und Kultur im Verhältnis zu den jeweiligen christlichen, und auch muslimischen, Mehrheitsgesellschaften im europäisch-mediterranen Kulturraum darzustellen. Geschichtsmaterialien, die alte stereotype Bilder durch lebendige, komplexe Darstellungen jüdischer Lebenswelten ersetzen, sollten sie dabei unterstützen.
Dieser Text beruht auf den Ergebnissen eines Auftrages zu "Judenbild im Schulbuch und unterrichtlicher Kommunikation", den der Autor mit Dagi Knellessen für das Fritz Bauer Institut - Studien und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust durchgeführt hat.
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- 16/12/2010 - 13:55