Dialogue

Schule digital, Geschichtsunterricht digital?

Thomas Spahn ist derzeit in der Lehrerfortbildung tätig und beschäftigt sich seit 2001 mit dem Einsatz digitaler Medien im Geschichts- und Fremdsprachenunterricht.
Von Thomas Spahn

Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom Oktober 2009 sieht die Stärkung der Medienkompetenz als wichtiges Ziel an für ein Leben in der „digitalen Welt“. Einige Monate zuvor legte das Bundesministerium für Bildung und Forschung einen Bericht zu „Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur“ vor. Und im Rahmen des Konjunkturpakets II spült es geradezu interaktive Whiteboards – i. e. digitale, webfähige Wandtafeln – in die Klassenräume der Republik.

Digitale Medien und digitale Medienkompetenz haben also bildungspolitische Hochkonjunktur – endlich, ist man geneigt zu sagen! Denn: Kompetent und kritisch mit digitalen Medien umzugehen, insbesondere dem Internet, stellt heute eine notwendige Voraussetzung für die aktive Teilhabe an unserer Gesellschaft dar.

Die Schule stellt sich dem bisher nur unzureichend. 9 von 10 Lehrerinnen und Lehrern, so berichten aktuelle Studien übereinstimmend, nutzen PC und Internet zwar zur Unterrichtsvorbereitung – jedoch in der Mehrheit selten oder nie im Unterricht. Worauf ist dies zurückzuführen, und wie lässt sich diese Praxis verändern?

Weder die (inzwischen zumeist mindestens akzeptable) technische Ausstattung der Schulen noch schulorganisatorische Gründe (45-Minuten-Taktung; 1 fester PC-Raum…) können hinreichend erklären, warum digitale Medien von Lehrkräften an deutschen Schulen so viel seltener eingesetzt werden als im übrigen Europa. Auch sind Lehrende den „neuen“ Medien gegenüber überwiegend positiv eingestellt. Was zu vielen von ihnen jedoch fehlt: didaktische und methodische Konzepte, diese Medien sinnvoll in ihren Fachunterricht zu integrieren.

Folglich gilt es, Konzepte für den fachspezifischen Einsatz digitaler Medien in der Schule zu entwickeln. Dabei muss für jedes Unterrichtsfach ausgelotet werden: Wann bringt der Einsatz des Internets einen didaktischen Mehrwert mit sich? Welche fachspezifischen, welche fächerübergreifenden Kompetenzen (Klieme) können die Lernenden mit digitalen Medien erwerben und ausbauen? In welchem Verhältnis stehen notwendiger Aufwand und didaktische Potenziale zueinander?

Digitale Medien im Geschichtsunterricht

Die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit diesen Fragen steckt noch in den Kinderschuhen. Statt den Themenkomplex aus einer didaktischen Perspektive kritisch zu beleuchten, bietet das Gros der (durchaus umfänglichen) „älteren“ Literatur oft nicht mehr als technische Einführungen, Linklisten oder die Präsentation historischer Lernsoftware auf CD-ROM. Die Halbwertzeit dieser Publikationen ist aufgrund der rasanten medialen Weiterentwicklung zudem eher gering. Das Internet wird dabei zumeist auf Quellensammlungen, Geschichtsportale und fachwissenschaftliche Datenbanken beschränkt.

Hingegen existieren bisher nur wenige, allesamt in jüngerer Zeit veröffentlichte Beiträge, die den um Welten mächtigeren Part des Internets in den Blick nehmen, den Part, der viel näher an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler liegt: Webinhalte und -anwendungen, die nicht eigens für formelle Lernprozesse kreiert wurden, die nicht didaktisiert sind – und sich dennoch vielfältig zum historischen Lernen in der Schule nutzen lassen.

Gemeint sind Anwendungen wie Weblogs, Wikis, Chatdienste und Foren, E-Mail, Lernplattformen einerseits; Zeitschriftenartikel, private Websites zu historischen Themen, Wikipedia-Artikel, historische Edutainment-Angebote von Fernsehsendern, Webauftritte von Städten und Behörden, internationale Nachrichtendienste etc. andererseits. So können Schülerinnen und Schüler im World Wide Web Inhalte recherchieren, sich über ihre Lernprozesse und Lernergebnisse miteinander verständigen oder diese dokumentieren und weltweit publizieren.

Diese Anwendungen und Inhalte im Internet sind jedoch mehr als nur Werkzeuge, mit denen sich historische Inhalte komfortabler recherchieren lassen, die das sprichwörtliche „Heraustreten aus dem Klassenzimmer“ ermöglichen oder die die Medienkompetenz der Lernenden fördern. Diese Vorzüge sind wichtig und erfüllen wesentliche didaktische und methodische Funktionen im Geschichtsunterricht. Aber diese Aktivitäten im Internet können mehr – sie leisten einen Beitrag zu wesentlichen historischen Kompetenzen (Sauer) der Lernenden und unterstützen diese darin, sich Geschichte nach konstruktivistischen Lernprinzipien anzueignen. Wie sehen nun mögliche Ansätze, konkrete Beispiele und Konzepte aus, die diese Potenziale veranschaulichen?

Als eine der wichtigen Erscheinungsformen von historischen Inhalten im Internet – und somit Teil der öffentlichen Geschichtskultur – wird die Wikipedia im Geschichtsunterricht thematisiert. Wikipedia steht sinnbildlich sowohl für das Kernprinzip des „Web 2.0“ als auch für eines der Probleme im „Mitmachnetz“: Jede und jeder kann Inhalte veröffentlichen und verändern, so dass die Zuverlässigkeit der Informationen nie ganz sicher sein kann. Dies birgt Lernchancen für den Geschichtsunterricht. So könnte anhand des strikten Wikipedia-Prinzips, den Inhalt von Beiträgen konsequent mit Link- oder Literaturangaben abzusichern, der Konstruktcharakter von (historischem) Wissen herausgearbeitet werden.

Ebenso könnte es die Aufgabe der Lernenden sein, selbst eine Darstellung eines historischen Sachverhalts aufgrund anzugebender Quellen zu verfassen – als Wikipedia-Artikel. Dies würde die narrative Kompetenz (Barricelli) der Schülerinnen und Schüler fördern. Für die Manipulierbarkeit der Wikipedia (und von WWW-Inhalten im Allgemeinen), aber auch deren streitbaren Kontrollmechanismus durch die Wikipedia-Gemeinschaft würden die Lernenden weiter sensibilisiert, indem sie entweder vorsätzlich sachliche Fehler in den eigenen Artikel einbauen oder versuchen, andere Inhalte zu verfälschen. Fachspezifische, historische Kompetenzen und überfachliche Medienkompetenzen – etwa die Fertigkeit, Informationen zu recherchieren, zu bewerten und weiterzuverarbeiten –greifen ineinander.

Ähnliches vermag die Herstellung eines eigenen Wikis zu leisten. Schülerinnen und Schüler aus zwei Geschichtskursen im Saarland erarbeiten kooperativ ein Wiki zur Vor- und Nachbereitung einer Exkursion nach Verdun. Auf der Grundlage von Materialien im Internet verfassen die Lernenden zehn Artikel, formulieren im Vorfeld der Exkursion einige Fragen an einen Reiseleiter und integrieren einen in Verdun aufgezeichneten Videoclip. Den Vorzügen der Lernumgebung – etwa als Ort zur Organisation und Präsentation von kooperativen Arbeitsprozessen – steht ein Stück weit der Aufwand entgegen, den die notwendige Installation eines „Wiki-Engines“ auf dem eigenen oder dem Schulserver erfordert.

Weniger aufwändig ist der Unterrichtsvorschlag von Daniel Eisenmenger zur digitalen Manipulation von Fotos im Geschichtsunterricht. Auch hier sind historische Kompetenzen und kritische Medienkompetenz eng miteinander verwoben. Die Lernenden erhalten den Auftrag, historische Fotografien mithilfe kostenlos erhältlicher Bildbearbeitungssoftware zu verändern. So werden die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisiert, wie leicht Fotos im digitalen Zeitalter zu manipulieren sind. Gleichzeitig jedoch wird ihr Bewusstsein auch dafür geschärft, dass (historische) Fotografien immer an die subjektive Perspektive der/des Fotografierenden gebunden sind – so wie historische Quellen stets dem Merkmal der Perspektivität unterliegen.Im WebQuest zum Auschwitz-Prozess sehen sich die Schülerinnen und Schüler in das Jahr 1965 zurückversetzt und nehmen die Rollen von Journalisten der historischen Fachzeitschrift „ZeitGeschehen“ an. Sie sollen anlässlich der Urteilsverkündung im Auschwitz-Prozess – aus der zeitgenössischen Perspektive heraus – eine Extraausgabe der Zeitschrift erstellen. Die Lernenden übernehmen in mehreren Kleingruppen verschiedene Perspektiven, etwa die eines freigesprochenen und eines verurteilten Täters oder die Perspektive der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. In dem WebQuest können, müssen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Perspektiven übernehmen und anschließend miteinander in kooperativen Lernprozessen aushandeln.

Dabei wird das WebQuest der berechtigten Forderung gerecht, dass die fachdidaktischen Prinzipien Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität im Unterricht über den Nationalsozialismus und die Shoa nicht außer Kraft gesetzt werden sollten (von Borries). Für Lehrende und Lernende kann sich jedoch ein wahrer Drahtseilakt zwischen diesem Anspruch und der durchaus vorhandenen normativen Zielsetzung des Unterrichts über dieses Thema ergeben, die eben nicht alle Standpunkte, alle Äußerungen zulassen darf. Diese kann auch in WebQuests zur Geschichte des Nationalsozialismus zum Problem werden – gerade durch deren konstruktivistische Anlage. Dieses Problem stellt sich allerdings in dem WebQuest nicht.

Stattdessen verdeutlicht das WebQuest die Stärken dieser webbasierten Lernumgebung. Es ist klar strukturiert, besteht aus sechs Arbeitsschritten und wirkt einer Überforderung der Lernenden entgegen, indem vorausgewählte Links für deren Internetrecherchen sowie weitere Hinweise zum Arbeitsprozess verfügbar sind. Zudem ist in der Aufgabenstellung die Möglichkeit zur inneren Leistungsdifferenzierung angelegt.

So stellt das WebQuest ein Beispiel für eine webbasierte Lernumgebung dar, in der das Lernen mit digitalen Medien nach konstruktivistischen Prinzipien – d. h. selbst gesteuertes, kooperatives Lernen mit instruktionalen Hilfestellungen – möglich wird. Indem die Lernenden das WebQuest bearbeiten, schulen sie sowohl ihre Medienkompetenz als auch fachspezifische, nämlich historische Kompetenzen.

Praxisbeispiele

Zum Weiterlesen

Danker, Uwe/Schwabe, Astrid (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und Neue Medien, Schwalbach/Ts. 2008 (Forum Historisches Lernen).

 

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