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Breinitzer oder die andere Schuld

Hans Frick: Breinitzer oder die andere Schuld. München: Rütten & Loening (1965).
Von Ingolf Seidel

Die titelgebende Hauptfigur ist der Arzt Max Breinitzer, ein NS-Täter, der etliche Morde an Häftlingen auf dem Gewissen hat und an medizinischen Versuchen mit lebenden Menschen in den Konzentrationslagern beteiligt war. Nach der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus tauchte Breinitzer unter.

Die Geschichte des Romans spielt in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft der 60er Jahre. Hier war man nur allzu bestrebt die Vergangenheit und die eigene (Mit-)Täterschaft und Schuld zu verdrängen. Den ehemaligen Nazi-Schergen Breinitzer jedoch lässt seine Vergangenheit nicht los und er entdeckt spät - viel zu spät - seine Moralität und sein Gewissen.

Der Entschluss von Breinitzer sich der bundesdeutschen Justiz zu stellen, indem er sich selbst zur Anzeige bringt und ein ausführliches Geständnis einreicht, stößt nicht nur auf taube Ohren bei den Strafverfolgungsbehörden, sondern auch auf den offenen Widerstand seiner ehemaligen Mittäter. Breinitzer fordert schließlich nicht nur ein individuelles Verfahren gegen sich als Mörder. Er fordert die Auseinandersetzung der Justiz, und mithin der ganzen Gesellschaft, mit ihren Taten, mit ihrem Wegschauen und Beschweigen.

In einem von ihm fantasierten, fiktiven Tribunal äußert die Hauptfigur gegenüber dem Gericht: „Es geht um die Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen, die keinen von Ihnen je betrogen haben und nie die Absicht hatten, es zu tun. Es war meine Schuld, daß sie starben, aber es war auch Ihre Schuld. Verurteilen Sie mich, aber vergessen Sie nicht, das gleiche Urteil über sich selbst zu fällen, wenn Sie noch Anspruch darauf erheben, ein Gewissen zu haben. Erinnern Sie sich daran, meine Herren Richter, daß viele von Ihnen nur allzu gern bereit waren, Todesurteile zu unterschreiben, die gar nicht gefordert waren.“

Max Breinitzers Umwelt, die ehemaligen Mittäter, verweigern sich dieser Auseinandersetzung und setzen ihn unter Druck. Vor dem Hintergrund des so genannten Wirtschaftswunders wollen weder die Täter, noch die Zuschauer und Mitwisser sich mit ihrer Rolle auseinandersetzen, gar Verantwortung übernehmen. In der bundesdeutschen Wirklichkeit der 60er Jahre kämpfte der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einen weitgehend einsamen Kampf um die juristische Aufarbeitung und Bestrafung von NS-Tätern. Sowohl der hessische Staatsanwalt, als auch der Autor Hans Frick bewegten sich in einer Gesellschaft, die als Demokratie zwar einen formalen und entscheidenden Bruch mit der nationalsozialistischen Herrschaft vollzogen hatte; auch wenn dieser Bruch einzig den militärischen Anstrengungen der Alliierten zu verdanken war. Kulturell, in den Einstellungsmustern sowie in personellen Kontinuitäten bis in die politischen Spitzenpositionen hinein, weste noch manches Element der nationalsozialistischen Ideologie in der frühen Bundesrepublik bis Ende der 60er Jahre nach.

Auch der Antisemitismus, nach 1945 aus der offenen Kommunikation verbannt, hatte die Form eines untergründigen Antisemitismus nach und wegen Auschwitz angenommen. Die Motive dieses sekundären Antisemitismus, der auf einer Verweigerung der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld fußt, finden sich immer wieder in Fricks Roman.

Neben den unbestreitbaren literarischen Qualitäten des Buches, liegt hierin das Potential, sich über den Geschichtsunterricht hinaus, nämlich sich mit den gesellschaftlichen Stimmungen im Nachkriegsdeutschland auseinanderzusetzen.

Hans Fricks Roman verweigert sich einer oberflächlichen Lektüre; zu irritierend ist sind die kafkaesken Schilderungen des Autors. Die Dämonen des ehemaligen NS-Arztes holen diesen immer wieder als Tagträume und Fantasien ein. Diese Fantasien überlagern die Realität und sind kaum von ihr zu trennen. Die Psychosen des ehemaligen Euthanasie-Arztes Breinitzer erscheinen als eine Reaktion, die trotz ihres wahnhaften Charakter der Monstrosität des Geschehens und der Taten Breinitzer und anderer entsprechen.

Dem gegenüber erscheinen die Erinnerungsverweigerung und die Schuldabwehr der ehemaligen Mittäter als die eigentlich pathologischen Handlungsweisen. So grausig das Ende des Romans und die Selbsttötung von Breinitzer erscheinen mögen, so nachvollziehbar ist diese Tat. „Sie haben es getan und sie werden es jederzeit wieder tun, wenn es ihnen gestattet wird“ lautet der Schlüsselsatz des Romans, der darauf verweist, was auch der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno als zentrale Befürchtung für die Epoche nach dem Nationalsozialismus formulierte. Nämlich, dass das „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ als viel gefährlicher zu gelten habe, als das „Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“, wie es in der viel zitierten Schrift „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ heißt.

Hans Frick lässt es seine Hauptfigur vor dem fiktiven Gericht so ausdrücken: „Ich stehe vor Ihnen, weil ich davon überzeugt bin, daß die Wurzeln dieser Verbrechen noch längst nicht beseitigt sind.“ Die in solchen Sätzen liegenden Herausforderungen sind auch heute noch derart aktuell, dass sich allein daraus die Lektüre dieses, schon älteren, Romans rechtfertigt.

Die Komplexität des Stils, das notwendigen Vorwissen und die zum Teil drastischen Beschreibungen des Autors Hans Frick reduzieren Einsatzmöglichkeiten auf den Bereich des Sekundarstufe II und die historisch-politische Bildung mit jungen Erwachsenen. Dort aber kann das Buch mit Gewinn gelesen und zur Auseinandersetzung um den Themenkomplex Schuld eingesetzt werden.

Eine fulminante Rezension von "Breinitzer oder die andere Schuld" stammte seinerzeit von Erich Maria Remarque. Sie lässt sich hervorragend zur Kontextualisierung des Buches einsetzen.

Der Autor Hans Frick selber kann als einer gelten, der durch den Nationalsozialismus in seiner Persönlichkeit fundamental und nachhaltig geschädigt wurde. Frick wuchs, 1930 geboren, als uneheliches Kind eines jüdischen Kunsthändlers bei seiner Mutter in Frankfurt am Main auf. Die Schmähungen und die Ängste, die er ausstehen musste prägten seine Persönlichkeit und sein Werk.

In seinem Nachruf auf Hans Frick schreibt Franz Dobler im Jahr 2003: „Die persönlichen Dämonen waren stärker als der Erfolg, und vielleicht war der Selbstzweifel Fricks stärkster Gegner. Als er sich mit zwei Flaschen Cognac pro Tag fast ums Leben gesoffen hatte, stellte sich die Frage: schreiben oder leben?“ Der Schriftsteller entschied sich für das Leben, gab das Schreiben auf und wurde vergessen, obwohl sein Roman „Mulligans Traum“ prominent mit Helmut Qualtinger verfilmt wurde. Hans Frick starb mit 72 Jahren am 3. Februar 2003 in Spanien.

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