Zwangsarbeit in Gersthofen
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Ort/Bundesland: Bayern |
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Projekt Kontakt
Dr. Bernhard Lehmann Paul-Klee-Gymnasium Schubertstraße 57 D-86368 Gersthofen Tel.: +49 (0) 821 49 36 46 Fax: +49 (0) 821 49 18 71 |
Projektbericht der Klasse 11 a
Planungsphase und Themenbegründung
Alles hatte so harmlos begonnen. Unsere Klasse hatte erfahren, dass unser Geschichtslehrer Dr. Bernhard Lehmann im Schuljahr 2000/2001 mit der Vorgängerklasse einen Preis für ihr Internetprojekt zur "Geschichte und Soziologie des Augsburger Bahnhofs 1840-2000" gewonnen hatte. Weshalb sollte nicht auch unsere 11. Klasse an einem Projekt teilnehmen, das er uns vorschlug? Natürlich versprachen wir uns davon weniger traditionellen Unterricht, mehr Spaß und Eigentätigkeit und vielleicht auch einen Preis.
Als er dann im Dezember 2000 Frau Anna Pröll an unser Gymnasium einlud, die in eindrucksvoller Weise über den Widerstand und das Leiden ihrer Familie unter dem Nationalsozialismus berichtete, da stimmten wir zu, zum Schicksal der Familie Pröll eine Internetpräsentation zu erarbeiten.
Die Vielschichtigkeit dieses Themas konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhersehen. Wir erfuhren, dass Fritz Pröll, der Schwager von Anna Pröll, im KZ Dora den Freitod gesucht hatte, um nicht Mithäftlinge denunzieren zu müssen. Im KZ Dora wurden unter Anleitung von Prof. Wernher von Braun die berüchtigten V-2 Raketen von Zwangsarbeitern produziert, und zwar unter unmenschlichsten Bedingungen. Der Treibstoff der V-2 Rakete wiederum wurde unter anderem in dem Gersthofer Rüstungsunternehmen "Transehe", einer Tochter der IG Farben, mit Hilfe von italienischen Militärinternierten produziert, die unter schlimmsten Bedingungen in einem Zwangsarbeiterlager am Rande Gersthofens dahinvegetierten.
Damit hatten wir nicht nur ein Thema, sondern deren gleich vier:
- Zwangsarbeit in Gersthofen
- Die Familie Pröll im Widerstand
- Die Rolle Wernher von Brauns bei der Produktion der V2-Rakete
- Das KZ Dora
Das potenzierte zwar die Arbeit, zugleich aber auch die Spannung. Umso mehr verbissen wir uns in die Themen, als wir herausfanden, dass es in Gersthofen eine Wernher-von-Braun-Straße gab, in der sich im Zweiten Weltkrieg ein Zwangsarbeiterlager befand. Zugleich bedeutete die Straße eine permanente Provokation für Anna Pröll, deren Schwager Fritz im KZ Dora sein Leben gelassen hatte. Verschiedene Versuche von Frau Pröll, bei der Stadt Gersthofen eine Umbenennung dieser Straße vorzunehmen, waren bereits früher gescheitert.
Projektverlauf und Probleme mit dem Bürgermeister
Wir begannen unsere Forschungen in den einschlägigen Kirchenarchiven, im Stadtarchiv Augsburg, in Firmenarchiven und im Augsburger Staatsarchiv. Das wichtigste Archiv, um unsere Themenstellung erfolgreich und differenziert bearbeiten zu können, war aber das Gersthofener Stadtarchiv, weshalb Dr. Lehmann beim Bürgermeister einen Antrag stellte, im Archiv forschen zu dürfen. Schon der erste Versuch scheiterte. Der Bürgermeister meinte, die schutzwürdigen Interessen verstorbener Gersthofener Bürger über die Forschungsinteressen von unmündigen Schülern stellen zu müssen. Es bestehe die Gefahr, so der Bürgermeister, dass in der Untersuchung Gersthofener Bürger an den Pranger gestellt würden. Wer von Sklavenarbeitern spreche, der impliziere auch, dass es Sklavenhalter gegeben habe, somit sei eine objektive Behandlung des Themas nicht gewährleistet.
Nun eskalierte die Sache. Dr. Lehmann gab nicht nach, betonte, dass die Schüler sehr wohl unter seiner Leitung behutsam mit dem Thema umzugehen imstande seien. Der Begriff der Sklavenarbeit beziehe sich auch nicht auf Zwangsarbeit allgemein sondern auf die Arbeit von KZ-Häftlingen in der Region. Die Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk wurden aufmerksam, die Positionen verhärteten sich. Der Bürgermeister machte ein Scheinangebot, indem er sich bereit erklärte, den Geschichtslehrer ins Archiv zu lassen, aber nicht die Schulklasse, zudem dürfe der Lehrer seine Erkenntnisse nicht veröffentlichen bzw. müsse die Forschungsergebnisse anonymisieren. Als der Lehrer zudem Erkundigungen am Friedhof über den Verbleib von Zwangsarbeitergräbern einzog, wies er die Friedhofsverwaltung an, ihm keine Auskünfte zu erteilen.Dies war zu viel für den Lehrer und seine Klasse. Schließlich wollten sie im noch laufenden Schuljahr das Projekt beenden. Im Mai 2001 stellten sie daher den Antrag auf einstweiliger Verfügung und baten das Verwaltungsgericht um Zugang zum Stadtarchiv Gersthofen.
Sieg vor dem Verwaltungsgericht
Am 12. Juni 2001 erging das Urteil des Augsburger Verwaltungsgerichts, welches dem Antrag des Lehrers und seiner Schüler in vollem Umfang stattgab. Endlich durfte das Team ins Archiv einziehen. Die Zeit war knapp, deshalb wurde die Ausstellungseröffnung auf Mitte Oktober verschoben. Eines war aber klar: Nachdem ZDF, Bayerischer Rundfunk, der Stern, Süddeutscher Zeitung, Bild-Zeitung und Die Welt auf unser Projekt aufmerksam geworden waren, durften wir nicht versagen und hatten geradezu eine Verpflichtung, nicht nur ordentliche, sondern überragende Arbeit zu leisten (siehe pdf-Dokument).
Unterstützung und Widerstand gegen unser Projekt
Und zu den vier Themen, die wir uns gestellt hatten, gesellte sich noch ein weiteres, nämlich das Thema des Umgangs einer Stadt mit ihrer Geschichte. Nicht jedermann im Ort wollte uns Auskunft geben, viele lehnten eine Zusammenarbeit kategorisch ab, viele beschimpften insbesondere Dr. Lehmann der "Nestbeschmutzung". Der Gipfelpunkt war eine anonyme Aufforderung zum Mord: "Schlagt ihn tot, möglichst bald!".
Aber wir ließen uns nicht mehr von unserem Ziel abhalten. Unsere Forschungsarbeiten waren das Ergebnis einer uns bisher unbekannten Form der Freizeit Gestaltung. Nicht mehr im Unterricht, sondern in den Ferien und an zahllosen Nachmittagen hatten wir Dokumente studiert, gescannt, Internetrecherchen betrieben und schließlich unsere Ergebnisse formuliert und dann überlegt, wie dies alles in eine Ausstellung umzusetzen sei. Auftrieb gaben uns zahlreiche Zuschriften aus ganz Deutschland, die uns ermutigten und uns finanzielle Unterstützung zusagten. Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsministerin i.R., rief persönlich an und ließ uns von der Theodor-Heuss-Stiftung einen Betrag von DM 5000,- überweisen, denn wir wollten nicht nur historische Arbeit, sondern auch Versöhnungsarbeit leisten und ehemalige Zwangsarbeiter nach Gersthofen einladen.
Aus den in den Archiven eingesehenen Quellen der Machthaber erfuhren wir zwar etwas über die Bedeutung der Zwangsarbeiter im Rahmen der Kriegswirtschaft, ihre Einstufung und Behandlung gemäß dem nationalsozialistischen Rassenwahn. Nichts erfuhren wir aber über die Empörungen und Enttäuschungen der Zwangsarbeiter, nichts über ihre Erniedrigung und Entrechtung, Fremdbestimmung und Terrorisierung, über ihre Ängste, ihre Verarbeitung von Leid und Unrecht, von ruinierter Gesundheit, gestohlener Lebenszeit und verlorenen Perspektiven. Hieraus ergab sich die Konsequenz, Kontakt mit noch lebenden Zwangsarbeitern in Russland, der Ukraine, Polen, Italien und Frankreich zu treten (siehe pdf-Dokument).
Ausstellungseröffnung mit fünf ehemaligen Zwangsarbeitern
Niemand kann sich vorstellen, welche logistische Arbeit es erforderte, vier ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine, die früher in Gersthofen bzw. in der Region gearbeitet hatten, ausfindig zu machen, sie mit Pässen zu versehen, ihre Reise nach Deutschland zu organisieren, sie zu verpflegen und unterzubringen, ein Programm für sie zusammenzustellen und eine "Entschädigungsleistung" für sie zusammenzubringen. Zudem war es einem Mitschüler allein zu verdanken, dass ein ehemaliger französischer KZ-Häftling aus Dora sich bereit erklärte, zur Ausstellungseröffnung zu kommen.Was uns ebenfalls stolz machte, war der Umstand, dass die Katholische Kirche dank unserer Forschungen Frau Antonia Piwowar vor Ort mit DM 5000,- entschädigte. Aber auch alle anderen Gäste konnten mit Geldbeträgen von jeweils DM 2000,- versehen werden. Die historische Ausstellung und die Sammlung von mittlerweile insgesamt über DM 52.000,- waren unsere Form der Entschuldigung an dem an ihnen verübten Unrecht.
Zwei Reisen in die Ukraine
Im Februar 2002 schließlich verbrachte unser Lehrer einen erheblichen Teil des gesammelten und gespendeten Geldes in die Ukraine und besuchte dort Zwangsarbeiter/innen, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht nach Gersthofen hatten kommen können. Durch eine Benefizveranstaltung im Februar 2003 mit Dieter Hildebrandt, der kostenlos für unsere Initiative auftrat, konnte weiteres Geld gesammelt werden und Dr. Lehmann unternahm eine weitere Reise in die Ukraine, um dort 8 weitere ehemalige Zwangsarbeiter zu besuchen und finanziell zu unterstützen.
Erstellung einer Broschüre zur Zwangsarbeit
Im Frühjahr 2002 edierte unser Geschichtslehrer mit Hilfe dreier Experten unserer Klasse schließlich noch eine 92-seitige Broschüre. Leider trug die örtliche Industrie kaum etwas zur Finanzierung bei, weshalb wir nochmals DM 5000,- zusammenbetteln mussten. Aber der Absatz unserer Broschüre zeigte, dass ein enormes Interesse am Thema bestand. Das aus dem Erlös der Publikation kommende Geld werden wir dafür nutzen, eine Art Zukunftsfonds für die früher in Gersthofen tätigen Zwangsarbeiter zu errichten, denn wir sehen unser Engagement keinesfalls für beendet an. So konnte Herr Dr. Lehmann im Juli 2002 einem Sohn eines ukrainischen Zwangsarbeiters weitere € 3000,- mit in die Ukraine mitgeben, das dann an noch lebende Zwangsarbeiter überbracht wurde, die wir erst nach unserer Ausstellung ausfindig machten und welche wir noch nicht entschädigt hatten. Nach Interessenslage wollen wir zudem die Ausstellung auch in anderen Teilen Deutschlands zeigen, die KZ-Gedenkstätten Dora-Mittelbau und Dachau haben bereits ihr Interesse bekundet. Die KZ-Gedenkstätte Dora-Mittelbau nominierte unsere Ausstellung für den "Kurt-Baumann-Preis", mit dem Verdienste um die Erforschung von KZ-Schicksalen gewürdigt werden.
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- 13/05/2010 - 10:49