Loyale Nachbarn oder Feinde?
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SCHULE: I. Allgemeinbildende Oberschule „Jan Kasprowicz“, Inowrocław |
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Der Film versucht, den Ereignissen von 1942/43 nachzugehen, als die deutschen Besetzer planten, Zamosc und die umliegenden 300 Dörfer nach Aussiedlung, 'Pazifikationen' und Vernichtungsaktionen zu 'germanisieren', um den eroberten Ostraum zu sichern. Augenzeugen, die diese mörderische Aktion als Kinder miterlebten, berichten von den verschiedenen Stationen ihres Leidensweges: der Aussiedlung, dem Auffanglager Zamosc, den Zugtransporten kreuz und quer durch Polen. Der Film zeigt jedoch auch Beispiele des Widerstandswillens und der menschlichen Liebe der Bevölkerung. Eine Frau berichtet von einer Kinderrettungsaktion und der mächtigen Demonstration bei der Beerdigung der erfrorenen und verhungerten Kinder. Herr Zamoyski erzählt von einem einfachen Bauern, der sich trotz Lebensgefahr nicht abschrecken ließ, den Kindern im Lager Nahrung zu bringen. Diese Augenzeugenberichte werden ergänzt durch weitgehend unbekanntes dokumentarisches Film- und Fotomaterial aus polnischen Archiven. Der Film will kein lückenloses Gesamtbild rekonstruieren, vielmehr tastet er sich facettenartig an dieses unmenschliche Geschehen heran. |
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Projekt Kontakt
Edmund Mikołajczak I LO im. Jana Kasprowicza ul. 1 Maja 11/13 88-100 Inowrocław Tel.: + 48 52 357 22 07 Fax: + 48 52 357 42 36 |
Herbert-Lemke-Straße
Wortwörtlich der Zufall wollte es, dass sich Paulina Tomczykowska und Krystian Chołaszczyński, die beide 16 Jahre alt sind und eine Oberschule in Inowrocław besuchen, mit der großen Geschichte befassten. Ein Klassenkamerad hatte für das Schulmuseum ein altes Straßenschild mitgebracht, das auf einer Baustelle ausgegraben worden war und in Fraktur die deutsche Aufschrift Herbert-Lemke-Straße trug. Mit Hilfe des Geschichtslehrers stellten die Schüler/innen bald fest, dass die ulica Przypadek [Zufall-Straße], im nördlichen Teil von Inowrocław in der Nähe der Altstadt gelegen, während der deutschen Besatzungszeit 1939-1945 diesen Namen getragen hatte. Wer aber war der Namenspatron? Warum war er geehrt worden? Worum hatte er sich so verdient gemacht? Auf diese Fragen wollten die VerfasserInnen des Projekts Antworten finden.
Zunächst griffen sie zu der relativ reichhaltigen Literatur, die zur Geschichte der deutschen Minderheit vorliegt, die von der vorletzten Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Kujawien gelebt hatte. Sie analysierten ihre Anzahl, die sich beeinflusst von der Geschichte oder vielmehr der Politik veränderte. Sie machten sich an Hand von Quellen und Darstellungen ein Bild von den tatkräftigen nationalen, kulturellen und politischen Organisationen und Vereinen der Deutschen, aber auch von ihrem Schulwesen, ihrer Kirche und Presse. Sie diskutierten den Wandel, der sich aus der Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung und einer verstärkten Propaganda ergab. Sie lernten wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kennen. Sie untersuchten, was offiziell war und was - insgeheim – gegen die bestehende politische Ordnung zielte.
Das ganze historische Panorama, das sie ausbreiteten und das nicht nur aus Fakten, Zahlen und Namen, sondern auch aus Titeln von Büchern und Artikeln, Signaturen von Dokumenten und zahlreichen Anmerkungen bestand, diente ihnen jedoch nur als Einstieg, um durch Zeitzeugenberichte die Geschichte von Menschen „hautnah“ zu erforschen, die seit Jahren neben einander wohnten, sich gut kannten und plötzlich eine Barrikade zwischen sich vorfanden.
Auf der Suche nach der Vergangenheit
Der Betreuer des Projekts, Edmund Mikołajczak, umreißt dessen Prämissen wie folgt: „Das westliche Kujawien, das früher auch Inowroclawer Kujawien hieß, stand seit dem Mittelalter unter dem Einfluss von drei Kulturen, der polnischen, der deutschen und der jüdischen. Die gemeinsame Anwesenheit dieser drei Nationalitäten war etwas Natürliches, und wenn es auch Gegensätze gab, so überwog doch die Überzeugung, dass es notwendig sei, gemeinsam für das Wohlergehen von Stadt und Region zu sorgen.
Der Zweite Weltkrieg machte dem multinationalen Inowrocław ein Ende. Nach 1945 wurde die Stadt tatsächlich polnisch, und ihre frühere Geschichte blieb den nächsten Generationen der hiesigen Polen unbekannt oder unverständlich, worauf die antideutsche Propaganda der 1950er und 1960er Jahre wesentlichen Einfluss hatte, da sie nur ausgewählte Teile der Stadtgeschichte heraushob, in erster Linie die Leidensmomente. Die Denkmäler, die an eine andere Nationalität als die polnische erinnerten, wurden fast vollständig zerstört (in den 1970er Jahren wurde der einzige evangelische Friedhof eingeebnet). Im Ergebnis wissen die jungen und etwas älteren EinwohnerInnen nicht so recht, welche historischen Faktoren die heutigen Bewohner von Inowrocław geprägt haben.
Dies alles brachte mich auf den Gedanken, die Jugendlichen für eine Wettbewerbsarbeit über ein Thema „zu interessieren“, das es möglich machte, die Nationalitätenprobleme in Inowrocław genauer zu beleuchten, in diesem Fall den deutsch-polnischen Aspekt. Da bis heute nicht geklärt ist, ob sich ortsansässige Deutsche im September 1939 vor dem Einrücken regulärer Truppen, d.h. der Wehrmacht einer sog. Diversion schuldig gemacht hatten, war ein guter Vorwand, um sich mit dieser Problematik zu befassen, die um so interessanter ist, als noch die Möglichkeit besteht, sich auf die Erinnerungen von Zeitzeugen zu berufen. Die Jugendlichen konnten sich also überzeugen, wie unterschiedlich die Erfahrungen und Ansichten der Einwohner sind, die sich noch an die Besatzungszeit erinnern, sie konnten die Komplexität des Problems begreifen und die wahre, wenn auch verworrene und nicht leichte Geschichte kennenlernen. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen wurden auch anderen SchülerInnen vorgestellt, sodass auf diese Weise der Kreis derer erweitert wurde, die Gelegenheit hatten, sich für die genannte Thematik zu interessieren.“
Kujawiendeutsche – etwas Geschichte
Zur Zeit Bismarcks und der berüchtigten Ansiedlungskommission waren viele deutsche Siedler ins westliche Kujawien gekommen. Mitunter nahmen sie ganze Dörfer ein, beispielsweise Palczyn, Rojewo, Rojewice, Parchanie und Dąbrowa Biskupia im Norden des Kreises Inowrocław. Vor dem Ersten Weltkrieg betrug die Anzahl der deutschen Bevölkerung im Kreis Inowrocław fast 30.000. Die Deutschen besaßen hier das Übergewicht in der lokalen Selbstverwaltung, sie übten fast alle wichtigeren Funktionen aus, z.B. stellten sie den Landrat (Leiter der Kreisverwaltung) oder den Bürgermeister von Inowrocław, das damals, ebenso wie in der deutschen Besatzungszeit, Hohensalza hieß.
Nach 1918, als Polen wieder ein unabhängiger Staat wurde, wollten sich nicht alle Deutschen auf den Status eines loyalen Bürgers des neuen Staates einlassen, wanderten also nach und nach ab. In Quellendarstellungen findet sich die Information, dass die Anzahl der Deutschen in diesem Gebiet bis 1921 auf 12.333 gefallen war und 1926 nur noch 8.455 betrug. Auf diesem Stand blieb sie während der 1930er Jahre. Da die polnische Bevölkerung damals 63.000 überstieg und andere Nationalitäten nur marginal vertreten waren, belief sich der Prozentsatz der deutschen Bevölkerung etwa 11,5 Prozent. In Inowrocław selbst sahen die Relationen etwas anders aus. Hier besaßen die Polen ein sehr deutliches Übergewicht. 1939 waren von den 40.520 Einwohnern 39.391 polnisch, 965 deutsch und 173 jüdisch. In der kommunalen Selbstverwaltung hatte sich die Situation diametral geändert. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurden ausschließlich Polen Stadträte. Deutsche waren höchstens Dorfbürgermeister. Doch sie unterhielten im sozialen, kulturellen und schulischen Bereich eine rege Tätigkeit, die nicht immer mit der polnischen Staatsräson im Einklang stand.
Die Zeitzeugen
Die Verfasserin und der Verfasser des Projekts interessierten sich insbesondere für den Zeitraum unmittelbar vor Kriegsbeginn und während der ersten Kriegstage, d.h. bis zum 8. September, als die Wehrmacht die Stadt einnahm. Bislang hatte sich niemand ausführlicher mit diesem Thema befasst. Man kann sogar sagen, dass es sorgsam vermieden wird. Kein Historiker erklärt auch, wie es kam, dass eine Straße nach Herbert Lemke benannt wurde. Die einzige schriftliche Spur ist ein Stadtplan aus der Besatzungszeit, der im Staatsarchiv Inowrocław aufbewahrt wird. Es stellte sich auch heraus, dass es mehrere Straßen mit geheimnisvollen Namenspatronen gab: eine Otto-Fuchs-Straße, (die heutige ulica Karola Marcinkowskiego/Karol-Marcinkowski-Straße), eine Julius- Kadolowski-Straße (ulica Orłowska), eine Otto-Berndt-Straße (ulica Jacewska), eine Otto-Schmidt-Straße (Stare Miasto) und eine Karl-Scheidler-Straße (ulica Młyńska). Eine Analyse ergab, dass es sich bei den Genannten nicht um allgemein bekannte Personen mit herausragenden Verdiensten handelte, sondern um völlig durchschnittliche Bürger aus dem Ort. Die Verfasserin und der Verfasser beschlossen daher, sich an ältere Einwohner zu wenden, um in Erfahrung zu bringen, warum ausgerechnet diese Männer derart geehrt wurden. Sie luden KlassenkameradInnen zur Mitarbeit ein, weil viele von ihnen noch Großeltern und Bekannte haben, die sich an die zweite Hälfte der 1930er Jahre erinnern. Auf diese Weise kam das Projekt zu Stande, mit dem geklärt werden sollte, ob die Polen und Deutschen, die damals in Kujawien lebten, loyale Nachbarn oder Feinde waren.
Die Verfasserin und der Verfasser benutzten dazu 18 vorher noch nicht veröffentlichte Berichte von Einwohnern und Einwohnerinnen aus Inowrocław und Umgebung, darunter auch von zwei Deutschen (die meisten Berichte entstanden aus diesem Anlass, zwei waren früher dokumentiert worden), und ergänzten das Ganze mit drei bereits vorher veröffentlichten Berichten von Polen. Diese insgesamt 21 Berichte boten nach Ansicht der beiden Forschenden eine gute Chance, um sich ein relativ objektives Bild machen zu können, allerdings wohl wissend, dass Zeitzeugenberichte subjektiv „verseucht“ zu sein pflegen und die Zeit sowohl Fakten als auch die Emotionen beeinträchtigt, die sie damals begleiteten.
Polen und Deutsche in den Berichten
Polen nahmen Deutsche stets als Menschen wahr, die gut zu wirtschaften verstehen, solide und organisiert sind und sich peinlich an Recht und Gesetz halten, denn solche Deutschen hatten Kujawien in der Teilungszeit (1772-1918) regiert. Selbst als 1939 die Wehrmacht einmarschierte, trösteten die alten Inowroclawer sich und andere: „Das sind doch Deutsche. Die bringen uns nicht um“ – wie sich der bekannte polnische Historiker Marian Biskup erinnerte.
Die meisten Zeitzeugen, die die Verfasserin und der Verfasser befragten, behaupteten, dass die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen höchst korrekt gewesen seien. Oft wiederholen sich Begriffe wie: freundlich, gut, sympathisch. Das betrifft Kontakte in der Schule (darüber spricht Zygmunt Frąszczak), beim Einkaufen (Izabella Piaskowska), am Arbeitsplatz (Stefan Przybysz, Stanisława Filipczak, Genowefa Dudkiewicz, Ewald Reich) und auch beim gesellschaftlichen Umgang (Stanisława und Stefan Przybysz, Stanisław Mikołajczak, Kazimierz Strauchman, Kunegunda Szczupak) (siehe pdf-Dokument).
Kinderfreundschaften und gemeinsame Spiele (auch Vergnügungen und Tanzveranstaltungen von Erwachsenen, woran das Ehepaar Przybyszewski sich gerührt erinnerte) tauchen in vielen Zeugenberichten auf. Man kann sagen, dass es die Norm war, von der es selten eine Ausnahme gab. Von einer deutlich feindseligen Einstellung sprach nur Herr Stanisław Głęboczyk („In den Schulen galt nur die deutsche Sprache. Die deutschen Lehrer behandelten die polnischen Schüler schlecht, schlugen ihnen auf die Finger und sagten: Schweine-Polen”.). Doch der Zeuge verwechselt eindeutig die Zwischenkriegszeit mit der Situation während des Kulturkampfes, als die polnischen Kinder „germanisiert“, d.h. eingedeutscht werden sollten.
„Ein sehr anständiger Mensch“
Der Arbeitsplatz ist wichtig für zwischenmenschliche Kontakte. Hier ergeben sich, unabhängig von Nationalitätenunterschieden, immer eine Menge Situationen, die Missverständnisse oder geradezu Konflikte hervorrufen. Oft war es der Fall, dass polnische Jugendliche bei reichen deutschen Familien beschäftigt waren. Frau Genowefa Dudkiewicz, die als Kindermädchen arbeitete, beklagt sich nicht über ihre Arbeitgeber. Doch ihre Feststellung - „Im Vergleich zu anderen Polen, die bei Deutschen arbeiteten, hatte ich es nicht so schlecht.“ - legt nahe, dass die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern nicht immer gut waren.
Sehr gute Verhältnisse herrschten dagegen auf dem Gut der Heidebrecks in Markowice. Davon sprechen übereinstimmend Frau Stanisława Filipczak (Polin) und Ewald Reich (Deutscher). Auch von Seiten der Polen, die in der Gärtnerei von Otto Fuchs beschäftigt waren, hört man keine Klagen, im Gegenteil, es heißt von ihm, dass er „ein sehr anständiger Mensch“ gewesen sei (Stanisław Mikołajczak, Izabella Piaskowska).
Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man die Behauptung riskieren, dass am Arbeitsplatz eher Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Fleiß oder Verlässlichkeit zählten und weniger die nationale Herkunft. Die schlechte Meinung, die Herr Władysław Hetmaniak von einem Deutschen mit Namen Seidel hat, der in der Wirtschaft seines Vaters arbeitete, rührt wohl eher von den tatsächlichen Fehlern des Arbeiters her („launisch, trotzig, boshaft und eher polenfeindlich“) als von nationalen Vorurteilen des Arbeitgebers. Herr Hetmaniak erinnert sich an den deutschen Besitzer der Weingroßhandlung mit Namen Radetzki, der sich allen gegenüber sehr boshaft verhielt. Schwer zu überprüfen ist dagegen die Ansicht dieses Zeugen, dass diejenigen Deutschen den Polen gegenüber feindlich eingestellt gewesen seien, die kein eigenes Vermögen, Geschäft oder keine eigene Wirtschaft besaßen und daher bei anderen arbeiten mussten.
Es lohnt sich auch, ein paar Worte darüber zu verlieren, ob die Polen vielleicht deutsche Geschäfte boykottierten. In den Erzählungen der Zeugen taucht wiederholt der Name des deutschen Milchhändlers Jauch auf, der sein Geschäft in der ulica Św. Andrzeja [St. Andreas-Straße] hatte. „Jauch war gut zu allen Arbeitern und freundlich zu den Kunden”, sagt Izabella Piaskowska. In seinem Geschäft kaufte auch die Mutter von Herrn Kazimierz Strauchman ein, der sich erinnert: „Meine Mutter verachtete die örtlichen Deutschen nicht und sah auch keine Veranlassung, ausschließlich in polnischen Läden einzukaufen.“
Doch Frau Jadwiga Giełwanowska stellt eindeutig klar: „Die Polen unterstützten das polnische Volk, kauften in polnischen Läden und gingen zu polnischen Ärzten.“ Was stimmte also? Sicherlich war es einmal so und einmal so. Man kann verstehen, dass Polen in vielen Fällen aus praktischen Erwägungen in polnischen Geschäften einkauften, weil diese in der Nähe waren oder deswegen, weil sie den Besitzer kannten. Der Bäcker Wybrański, der Milchmann Płotka, der Fleischer Benedykciński, die Apotheker Moll, Reszka oder Ośmiałowski, der Buchhändler Knast – das waren alles bekannte und beliebte polnische Firmen. Die Devise „Kauf nur bei Polen!“ war also kein leeres Schlagwort. Doch der Boykott betraf im größeren Umfang jüdische als deutsche Geschäfte, was im „Dziennik Kujawski“ [Kujawischen Tageblatt] deutlich zum Ausdruck kommt.
Die Ruhe vor dem Sturm
Als Hitler am 28. April 1939 die deutsch-polnische Gewaltverzichtserklärung aufkündigte, nahm ein Teil der deutschen Minderheit eine krass feindliche Haltung gegenüber dem polnischen Staat ein. Immer häufiger gab es Spionagefälle. Das Problem der „fünften Kolonne“ verschärfte sich. Der Selbstschutz, eine Geheimorganisation, die Himmler ins Leben gerufen hatte und deren Strukturen noch vor dem September 1939 standen, rekrutierte sich zum größten Teil aus ortsansässigen Deutschen. Den Nordabschnitt leitete der SS-Oberführer Ludolf von Alvensleben.
Auch die Polen trafen Vorbereitungen für einen eventuellen Krieg. Hinweise darauf finden sich in den Beständen des Museums der I. Allgemeinbildenden Oberschule „Jan Kasprowicz“. Die Chronik der Bratnia Pomoc [Bruderhilfe] enthält Fotos, die zeigen, wie Vertreter der Oberschule dem Kommandeur des in Inowrocław stationierenden 59. Großpolnischen Infanterie-Regiments als Geschenk Kriegsgerät übergeben. Die Aufnahmen von ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen und nationalen Feierlichkeiten illustrieren deutlich den Anstieg der patriotischen Stimmung in jenen Tagen.
Die Situation, die in der ersten Jahreshälfte 1939 im Kreis Inowrocław herrschte, zeigt am besten der „Dziennik Kujawski“. Im April und Mai berichten zahlreiche Artikel über die Aushebung von Freiwilligen, die sich als sog. lebende Torpedos meldeten. Wie die Zeitung angibt, könne eine solche Person dem Feind einen Schaden in Höhe von 300 bis 500 Millionen Zloty zufügen. An Freiwilligen fehlte es in Inowrocław nicht, sogar eine 15jährige Pfandfinderin aus der Abteilung „Generalin Zamoyska“ meldete sich.
Man beschuldigte die Deutschen der Münzspekulation, weil plötzlich die 2-, 5- und 10-Zloty-Stücke aus dem Umlauf verschwanden. Ein heftiger Streit betraf auch die städtischen Teiche und die umliegenden Seen, denn alle wussten, dass die Inowroclawer Deutschen die fischreichsten Seen in der Umgebung, den Janikowskie-, Trląg-, Mielno- und Wolickie-See gepachtet hatten. Auch die Molkereien wurden zu einem Problem, das zur Sprache kam, als sich herausstellte, dass 90 Prozent des leitenden Personals und der technischen Aufsicht der Molkereigenossenschaften Deutsche waren.
Polnische Einwohner entfernten eigenmächtig deutsche Aufschriften, u.a. am Gebäude der Freimaurerloge in der ulica Solankowa, und die Stadtverwaltung requirierte das Gebäude der deutschen Schule, das in derselben Straße lag.
Aus den Zeitungen geht jedoch nicht hervor, dass sich die alltäglichen Beziehungen schlagartig verschlechtert hätten. Von einigen Vorfällen wurde berichtet. Ulrich Kuss erinnert sich, dass kurz vor Kriegsbeginn ein deutscher Arbeiter der Druckerei des „Kujawischen Boten“ in der Umgebung von Inowrocław von Polen ermordet wurde. „Er kam nur deswegen um, weil er ein Deutscher war“, setzt er hinzu.
Die polnischen Zeugen bestätigen nicht, dass etwas Außergewöhnliches passiert sei. Tadeusz Dreliszak berichtet: „Wir fühlten uns von unseren Nachbarn nicht unterdrückt“, selbst nicht angesichts eines unvermeidlichen Krieges.
In den letzten Augusttagen ordneten die Behörden an, Luftschutzgräben auszuheben. Zygmunt Frąszczak fiel jedoch nichts Besonderes auf. „Die Atmosphäre war sehr gut, so gut sogar, dass man überhaupt nicht spürte, wie der Krieg näher rückte“, erinnert er sich. In ähnlichem Ton äußert sich Kazimierz Strauchman: „In der Stadt gab es keine Panik, alle waren eher bemüht, Ruhe zu bewahren.“ Doch alle spürten, dass – wie Kunegunda Szczupak bemerkt – „etwas in der Luft lag“ (siehe pdf-Dokument).
Die ersten Septembertage
Es kam der denkwürdige 1. September 1939, ein Freitag. Der polnische Rundfunk brachte bereits seit den frühen Morgenstunden Meldungen über den Beginn der Kampfhandlungen.
Noch am selben Tag trafen aus Richtung Bydgoszcz [Bromberg] kommend die ersten Flüchtlinge ein. Damen vom Polnischen Roten Kreuz, die eine Feldküche führten, nahmen sich ihrer an. Die Verwundeten wurden von Dr. Czesław Bydałek und Dr. Irena Konieczna ärztlich versorgt. In der ganzen Stadt war Verdunkelung angeordnet, und die Einwohner beklebten alle Scheiben mit Papierstreifen, damit sie nicht zu schnell zu Bruch gingen.
Die Verfasserin und den Verfasser des Projekts interessierte jedoch nicht so sehr der Ablauf der Ereignisse selbst, sondern der Wandel in den Beziehungen zwischen den ortsansässigen Deutschen und Polen. Was veränderte sich im Verlauf dieser wenigen Tage? Selbstverständlich musste selbst in den Beziehungen zwischen Nachbarn, die bislang friedlich miteinander ausgekommen waren, ein weitgehendes Misstrauen herrschen.
Aus den Zeitzeugenberichten geht hervor, dass mit Kriegsbeginn die Furcht vor den deutschen Einwohnern vehement wuchs. Die Verdächtigungen und Anschuldigungen nahmen zu, und daraus ergaben sich als nächstes Verhaftungen. Davon berichtete Ulrich Kuss, der damals als Halbwüchsiger eine Anklage wegen antipolnischer Tätigkeit knapp überlebte. Später wurde dann – zusammen mit anderen deutschen Einwohnern von Inowrocław – auch sein Vater festgehalten. Dieser Zeitzeuge sah nicht selbst, dass polnische Bürger der Stadt deutsche Einwohner ermordeten, aber er berichtet, dass er nach dem Einrücken der Wehrmacht an der Exhumierung erschossener Deutscher teilnahm (siehe pdf-Dokument).
Die polnischen Zeitzeugen berichten wiederum von deutscher Diversion. Davon erzählten u.a. Edmund Łuczkowiak und auch Ludomira Kordylas, die sich daran erinnert, dass sie gehört hatte, dass Juliusz Kadalowski (Deutscher, Besitzer der Abdeckerei) deutschen Aufklärungsflugzeugen mit Hilfe großer Spiegel am Schornstein seiner Abdeckerei Zeichen gegeben haben sollte. Eine Atmosphäre, die von Verdächtigungen aufgeladen war, bestätigt auch Professor Marian Biskup, der sich an einige deutsche Todesopfer erinnert, dass die männlichen Mitglieder der deutschen Familie Fuchs ermordet wurden, erzählt auch Stanisław Mikołajczak (siehe pdf-Dokument).
Alles deutet darauf hin, dass es wesentlich mehr deutsche Opfer gegeben hat. Die Verfasserin und der Verfasser stellten fest, dass die Todesfälle von Deutschen im Standesamt Inowrocław verzeichnet wurden. Im „Sterberegister 1939“ stehen unter Nr. 483, 484, 499 neben Otto Fuchs, dem bekannten deutschen Gärtner, an den sich alle polnischen Zeugen so gut erinnern, noch seine beiden Söhne Hans und Emil, ebenfalls Gärtner. So kamen alle Männer in dieser Familie um. Doch keiner weiß, unter welchen Umständen das geschah.
Von polnischer Hand starb auch Kadalowski (korrekt: Kadolowski). War er tatsächlich schuldig? Wir wissen es nicht. Später wurde die ulica Orłowska, in deren Nähe er gewohnt hatte, nach ihm benannt. Ähnlich verhielt es sich wahrscheinlich auch mit den übrigen deutschen Namenspatronen Otto Fuchs, Otto Berndt, Karl Scheidler, Otto Schmidt oder Herbert Lemke. Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob sie tatsächlich Diversanten waren oder vielleicht Opfer von Verleumdungen und der allgemeinen Kriegspsychose.
Wer war der Namenspatron Herbert Lemke?
Im Sterberegister des Standesamts für das Jahr 1939 fand sich die Antwort auf die Frage, die am Beginn des Projekts stand. Unter der Nummer 532 fanden die Verfasserin und der Verfasser einen ausnehmend umfangreichen Eintrag. Herbert Lemke war im Augenblick seines Todes Eigentümer einer privaten Firma in der ulica Orłowska 24. Er lebte von 1906 bis 1939. Sein Vater Heinrich war Lokomotivführer.
Den Tod von Herbert Lemke meldete seine Ehefrau Gertrud. Erhalten ist auch der Eintrag, dass Heinrich Lemke (d.h. der Vater), wohnhaft Jacobstraße (d.h. ulica Św. Jakuba) Nr. 60, und der Gärtner Georg Baer, wohnhaft Heilig-Geist-Straße (d.h. ulica Św. Ducha) Nr. 41, Zeugen des Todes waren.
Dieser Tod, höchstwahrscheinlich völlig unnötig, erfolgte am 7. September 1939, somit am Tag vor der Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen. Bald darauf benannten die Deutschen die ulica Przypadek, die sich neben der ulica Orłowska befindet, in Herbert-Lemke-Straße um. Eine Straße in Inowrocław wurde also nach einem ganz und gar durchschnittlichen Menschen benannt.
Die Schlacht um Markowice
Das kleine Dorf Markowice wurde am 8. September 1939 Arena eines Aufsehen erregenden Ereignisses. Markowice liegt etwa elf Kilometer südlich von Inowrocław. Es war berühmt für sein schönes Mariensanktuarium. Dort befand sich außerdem ein großes Gut der deutschen Familie [von] Heidebreck. Begründer des Vermögens war Arnold von Wilamowitz-Möllendorf, dessen beide Söhne bekannte Persönlichkeiten waren: Hugo, der älteste, (1840-1905) brachte es zum Provinzial in Posen, während Ulrich (1848-1931) ein weltberühmter Altphilologe war.
In der Wirtschaft wie im Palast waren sowohl Deutsche als auch Polen beschäftigt. Die Zeitzeugen sagen übereinstimmend aus, dass die deutschen Besitzer ihre Arbeiter sehr gut behandelten. Dies bestätigt Frau Stanisława Filipczak, wenn sie davon erzählt, dass die Arbeiter an Feiertagen zusätzlich Lebensmittel oder Petroleum erhielten und auch die Bibliothek benutzen konnten, welche die Gutsherrin zusammengetragen hatte. Davon berichtet ebenfalls Ewald Reich, der zusammen mit den Kindern des Kammerdieners Stanisław Kaleta aufwuchs, der mit seiner Familie im Gutshaus wohnte, hier fanden gemeinsame Feierlichkeiten statt, man ging auch auf polnische Hochzeiten.
Am 8. September geschah jedoch etwas, was das Leben der Einwohner von Markowice für lange Jahre veränderte. Als eine mehrköpfige deutsche Patrouille auf das Gelände des zeitweilig verlassenen Gutes fuhr, gingen die Polen aus dem Ort zum Angriff über. Es kam zu einer regelrechten Schlacht, in der nicht nur alle deutschen Soldaten fielen, sondern auch fast alle deutschen Einwohner des Dorfes starben (den Polen ging es dabei sicherlich um die Beseitigung von Zeugen). Nur der Kassierer Jaschik, der sich im Kloster verstecken konnte, rettete sich. Zur Vergeltung machten die Deutschen Markowice zur Strafsiedlung, und viele Menschen - darunter auch die völlig unschuldigen Mönche, die zudem noch Jaschik in ihrem Kloster gerettet hatten – wurden in Lager deportiert oder erschossen.
Dieses Ereignis hat bereits seine Darstellung, doch die Verfasserin und der Verfasser des Projekts stießen auf den Bericht des in Markowice geborenen Deutschen Ewald Reich, der vor einigen Jahren Kujawien besucht und seine Erinnerungen Herrn Edmund Mikołajczak, dem Lehrer, der das Projekt betreute, übergeben hatte.
Herr Reich überlebte, weil er im September 1939 nicht in Markowice anwesend war. Doch damals fanden dort seine Eltern und alle Geschwister den Tod: sein Vater Adolf (Gärtner auf Gut Heidebreck), seine Mutter Anna, seine Schwester Gertrud und sein Bruder Walther. An einem Tag verlor er alle seine Angehörigen. Er konnte nicht verstehen, warum die Polen so grausam mit ihren deutschen Nachbarn verfuhren, mit denen sie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen beispielhaft zusammengelebt hatten. Wie er versichert, verhielt sich seine Familie während der ganzen Zeit dem polnischen Staat gegenüber loyal. Ihm selbst habe der Titel eines polnischen Rudermeisters (er hatte in Bydgoszcz gerudert) sehr viel bedeutet. Herr Ewald Reich kam aus dem deutschen Belm nach Markowice, um an dem Ort, an dem vor Jahren die Deutschen aus Markowice bestattet worden waren, Blumen mit einer Gedenkschleife niederzulegen.
Die Besatzungszeit
Noch bevor deutsche Truppen in die Stadt eingerückt waren, feierte ein Teil der ortsansässigen Deutschen bereits den Sieg. Dies beschreibt Jerzy Weber, ein pensionierter Lehrer, der am 7. September Zeuge der folgenden Szene wurde. Die ulica Solankowa fuhr ein offener Personenwagen entlang, der mit einer roten Hakenkreuzflagge geschmückt war. Im Pkw saßen drei Inowroclawer, die Herr Weber sofort erkannte. Es waren der Schneider Emil Nickel, („mein Schneider, der vis a vis in der ulica Wikaryjka wohnte, ...“), Willi Jaretzky, Eigentümer einer Holzhandlung in der ulica Staszica, und Georg Radetzki, Eigentümer der bekannten Wein- und Essighandlung in der ulica Św. Mikołaja. Sie paradierten durch die Stadt noch bevor die Wehrmacht einmarschiert war! Der Georg Radetzki im Auto war derselbe Georg Radetzki, dem die Wein- und Essiggroßhandlung gehörte, an den Władysław Hetmaniak sich gut erinnerte und von dem er sagte: „Ein Deutscher, der zu allen sehr freundlich war.“
In der Besatzungszeit hatten die neuen nationalsozialistischen Machthaber einen hervorragenden Vorwand, um Vergeltung zu üben, genauer gesagt, eine seit langem geplante Selektion unter den polnischen Einwohnern vorzunehmen. Für die Polen begann die Hölle. Doch selbst dann kam es noch vor, dass Polen in einzelnen Fällen von ihren deutschen Nachbarn zuvorkommend behandelt wurden und Hilfe erhielten. Anna Władysław, sagt: „Ich erinnere mich, dass einer der hiesigen Deutschen später Gestapo-Beamter wurde. Er war gut zu seinen Leuten“ (aus dem Zusammenhang geht hervor, dass hier eher die Nachbarn überhaupt und nicht nur die Deutschen gemeint sind). „Als es kalt war, schenkte mir einer meiner deutschen Bekannten einen Pullover“, erinnert sich Kazimierz Strauchman (siehe pdf-Dokument).
Loyale Nachbarn oder Feinde?
Die Antwort auf die Frage, was die Inowroclawer Deutschen waren, kann auf Grund des hier angeführten Materials nicht eindeutig ausfallen. Die mehr als 8.000 Deutschen, die 1939 im Kreis Inowrocław lebten, waren sehr verschiedene Menschen. Das ist völlig verständlich. Das gleiche lässt sich von den Polen sagen. Es ist unmöglich festzustellen, wieviele kujawische Deutsche von der Rückkehr eines großen Deutschlands mit Pommerellen, Großpolen und Westkujawien träumten. Man darf nicht vergessen, dass der Versailler Vertrag vielen von ihnen als ein Diktat galt, das nicht zu akzeptieren war. Die Tätigkeit von revisionistischen Organisationen – voran der berüchtigte Selbstschutz - ist eine bewiesene Tatsache. Ganz bestimmt gab es weniger loyale Deutsche, nachdem Hitler an die Macht gekommen war.
Die Zeitzeugen erzählen von den Taten einer „fünften Kolonne“, doch sie erinnern auch an Beispiele für ein völlig anderes Verhalten. Sie erinnern sich an die Hilfe, die sie von deutschen Nachbarn erhielten. Es kam vor, dass Deutsche ihnen das Leben retteten. Doch mitunter zeigten deutsche Nachbarn zu Beginn des Krieges auch ihr „zweites“ Gesicht.
Die Bedingungen in den letzten Augusttagen und der ersten Septemberwoche 1939 sind Ausnahmebedingungen auf der ganzen Linie. Damals traten verschiedene, manchmal völlig krasse Verhaltensweisen zu Tage, mitunter auch gegenseitiger Hass. In dieser besonderen Atmosphäre fiel es leicht, jemanden ungerechtfertigt zu verdächtigen und zu beschuldigen. Die Kriegspsychose tat ein Übriges. Damit muss man wohl das erklären, was in Inowrocław oder in Markowice geschah, wo auch völlig unschuldige Menschen, mitunter ganze Familien, den Tod fanden.
Einer der Zeitzeugen, Kazimierz Strauchman, sagte am Ende seines Berichts: „Meiner Ansicht nach kann man einen Menschen nicht danach beurteilen, ob er Deutscher oder Pole ist. Es gibt einfach böse und gute Menschen.“
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- 13/05/2010 - 11:51