Dialogue

Historisches Lernen zu DDR-Geschichte

Grundüberlegungen für die Bildungspraxis

DDR
Birgit Wenzel hat eine Gastprofessur für Fachdidaktik Geschichte an der Technischen Universität Berlin.

Von Birgit Wenzel

2009 feiert die Bundesrepublik Deutschland auf vielfältige Weise das 20-jährige Jubiläum zur friedlichen und erfolgreichen Revolution in der DDR. Obwohl oder vielleicht gerade, weil der Anlass immerhin 20 Jahre her ist, kommt die Diskussion um eine angemessene Beschäftigung mit der voraus gegangenen 40-jährigen DDR-Geschichte offenbar erst seit kurzem so richtig in Schwung. In der Diskussion um die DDR-Vergangenheit und um den korrekten Umgang mit ihr schwingen unter anderem Begriffe wie „Aufarbeitung“, „Verdrängung“, „Ostalgie“, „Nischengesellschaft“, „Identitätsverlust“ oder „durchherrschte Gesellschaft“ mit. In der Öffentlichkeit debattieren Expertinnen und Experten gleichermaßen wie Laien um eine geeignete Bezeichnung für den DDR-Staat und die Botschaft dahinter: War die DDR ein Unrechtsstaat, eine totalitäre oder eine "gemäßigte" Diktatur?

Auch um das "richtige" Lernen und Lehren von DDR-Geschichte in schulischer und außerschulischer historisch-politischer Bildung ringen und streiten besonders die Fachleute: Soll DDR-Geschichte in der Hauptsache als politische Geschichte vermittelt oder eher als Alltagsgeschichte präsentiert werden? Welche Materialien sind geeignet und vor allem, was findet das Interesse von Jugendlichen? Müsste eher biographisch und exemplarisch oder besser überblicksartig und zusammenfassend gearbeitet werden? Darf Unterricht DDR-Geschichte für sich thematisieren oder sollte sie besser verschränkt mit der bundesdeutschen thematisiert behandelt werden?

Diese und andere Fragen und Diskussionen offenbaren, dass die gesamtdeutsche Geschichte dicht unter der Haut liegt. Die Diskutanten und für Bildungsfragen Zuständigen sind zumeist diejenigen, die entlang dieser Geschichte groß geworden sind. Sie sind, wenn auch in verschiedenster Art und Weise, die Augen- und Zeitzeugen sowie von ganz unmittelbaren Eindrücken und Erinnerungen betroffen. Die Zielgruppen von Bildung gehören dagegen überwiegend zu den Nachgeborenen. Es mag in diesem Zusammenhang keinen Königsweg geben, dennoch sollen hier einige Grundüberlegungen für das historisch-politische Lernen vorgeschlagen werden (wie sie sich auch schon entlang der oben skizzierten Diskussion entwickelt haben). Sie betreffen sowohl inhaltliche wie auch didaktisch-methodische Aspekte. Überschneidungen der neun Thesen sind beabsichtigt.

Vielfalt statt Einfalt

DDR-Geschichte darf nicht auf Herrschaft und Verfolgung oder Politikgeschichte reduziert werden, aber diese Themen gehören in die Auseinandersetzung mit hinein! In einer möglichst umfassenden Behandlung der komplexen Geschichte gilt es sowohl Verharmlosungen als auch unzulässige Vereinfachungen zu verhindern, ebenso wie Übertreibungen oder Idealisierungen.

Verschränkte Geschichte statt isolierter Betrachtung

DDR-Geschichte hat sich nie isoliert oder separat vollzogen, sondern war vor allem zum einen in die Geschichte der Blöcke eingebunden und ist zum anderen nur in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zur BRD nachvollziehbar. Insofern ist ein verschränkter Ansatz, der die Geschichte beider deutscher Staaten integriert und in ihrer Verflochtenheit behandelt, zu bevorzugen, ohne Asymmetrien und Besonderheiten zu vernachlässigen.

Offene und kontroverse Erinnerungsarbeit statt selektiver Verdrängung

Bildungsarbeit muss sich Kontroversen stellen, statt sie zu abzustreiten und somit einen Beitrag zu deren Bearbeitung leisten. Insofern haben Erinnerungs-Schätze genauso wie Erinnerungs-Lasten ihre Berechtigung. Jegliche Verdrängung oder Negierung, jegliches Verbieten und Bevormunden von Erinnerungen und Deutungen führen zu Belastungen und kehren in unliebsamen und neuen Verkleidungen als Erb-Lasten wieder zurück.

Multiperspektivität statt einzelner starrer Blickwinkel

Vergangenheit wird zu Geschichte, durch Quellen (wie Dokumente, Fotos, Filme, Sachgegenstände usw.) und durch vielfältige Erinnerungen, die erzählt und aufgeschrieben werden. Gerade in den Belegen aus und über die DDR-Vergangenheit kommen auch widersprüchliche Perspektiven zur Geltung, so entstehen unterschiedliche und sich unterscheidende Geschichten (Konstrukte), die in ihrer Vielfalt wahrgenommen werden wollen. Aus dieser Vielfalt erwächst die Einsicht, dass Geschichte nicht ein-deutig sein kann.

Untersuchen und wissen statt annehmen und vermuten

Durch Befragungen von Jugendlichen, aber auch Erwachsenen offenbaren sich Defizite der Kenntnisse auch grundlegender Fakten im Blick auf die gesamtdeutsche Geschichte. In Bildungszusammenhängen müssen solide Wissensbestände die Basis für Deutungen und Urteile bilden.

Selber denken und urteilen statt auswendig lernen und Deutungen übernehmen

Die eigene kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte verspricht insbesondere dann Erfolg, wenn im Lernprozess eigene Fragen entwickelt und diese (unter Anleitung) möglichst selbstständig bearbeitet werden. Begründete Urteile und die Wertschätzung von Demokratie und Menschenrechten können weder gelernt noch verordnet werden, sondern müssen von den Individuen in einem gemeinsamen Prozess entwickelt werden.

Anschauung und Lebensgeschichten statt Abstraktheit und Theorieorientierung

Abstrakte und übergeordnete Zusammenhänge haben dann eine Chance in den Fundus von Wissen und Kennen überzugehen, wenn sie mit Exempeln verknüpft werden. Biographische Ansätze, Lebensgeschichten von Menschen und deren persönliche Erlebnisse und Erinnerungen erschließen Geschichte so, dass sie interessant, anschaulich und nachvollziehbar wird. Von den lebensweltlichen Bezügen aus lassen sich dann auch übergeordnete Zusammenhänge und Probleme erschließen.

Die (eigene) Gegenwart einbeziehen statt Geschichte distanziert betrachten

Der Ausgangspunkt allen Fragens und Forschens ist die Gegenwart. Auch im Blick auf die DDR-Geschichte kann man von aktuellen Fragen und Kontroversen ausgehen, um ihnen auf den Grund zu gehen. Dabei kann z.B. auch die eigene Familiengeschichte einbezogen werden. Befindlichkeiten und persönliche Gefühle gehören ebenso in eine gegenwartsorientierte Auseinandersetzung wie die Wahrnehmung dieser bei anderen Menschen und die Frage, warum und wie diese verursacht wurden.

Projektorientierung statt vereinzelter Häppchen

Zusammenhänge erkennen, Fragestellungen er- und bearbeiten, (außerschulische) Lernorte aufsuchen, Zeitzeugen treffen und sprechen, Spurensuche vor Ort betreiben. Diese und andere sinnvolle und handlungsorientierte Aktivitäten lassen sich vortrefflich in projektorientierten Lern- und Arbeitszusammenhängen umsetzen und versprechen ungleich größeren Erfolg als Häppchen im 45-Minutentakt.

Historisches und politisches Lernen zur DDR-Geschichte ist erkennbar wichtig, aber auch schwierig und: Es gibt kein Patentrezept dafür. Wie dieser Artikel verdeutlicht, gibt es dennoch viele Möglichkeiten und Potentiale, die gerade einander ergänzend Erfolge für Lernprozesse versprechen.

 

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