Paul Martin Neurath: "Die Gesellschaft des Terrors". (2004) Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 400 S., 29,80 €

„Wie soll man das ununterbrochene Gebrüll beschreiben, wenn das einzig Bemerkenswerte daran der Wechsel von ,Fauler Sack, fauler' zu ,Faule Sau, faule' und vielleicht ,Dreckige Judensau, dreckige' besteht [...]. Die Situation ist Außenstehenden [...] schwer zu vermitteln."

Dies schreibt Paul Martin Neurath, jüdischer Emigrant aus Wien, in seiner Doktorarbeit "Die Gesellschaft des Terrors", die er im Mai 1943 am Fachbereich Soziologie der Columbia Universität in New York eingereichte und die jetzt erstmals nach 60 Jahren bei Suhrkamp in deutscher Sprache veröffentlicht wurde.

Am 1. April 1938 wurde Paul Martin Neurath mit dem ersten Transport von Österreichern in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Knapp zehn Monate später wurde er mit 1082 anderen Häftlingen nach Buchenwald gebracht, wo man ihn schließlich am 27. Mai 1939 entlässt. Über Stockholm, wo eine gut organisierte Gruppe jüdischer Emigranten lebt, gelangte er Anfang Juni 1941 nach New York. Binnen zweier Jahre absolvierte der Emigrant ein Zweitstudium und begann seine Promotion in Soziologie - "Die Gesellschaft des Terrors".

Neuraths Buch erhält seine Unvergleichlichkeit durch den Wechsel der Perspektiven des beschreibenden und analysierenden Soziologen und des erzählenden ehemaligen Häftlings. So entsteht ein dichtes Bild der Mitgefangenen, Wachmannschaften, Foltermethoden und Lagerhierarchien, des System der großen Konzentrationslager auf deutschem Reichsgebiet vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und der systematischen Vernichtungspolitik.

Mit "Szenerie" ist der erste der beiden Teile des Buches überschrieben, in dem Neurath das Lager, dessen architektonische Ordnung, die Akteure und die Systematik der Folter beschreibt. Im zweiten Teil "Gesellschaft" beschreibt er die Hierarchien und die Korruption innerhalb der Häftlingsgesellschaft. Die eigenerlebte psychologische Deformation bearbeitet er an der Frage der fehlenden Gegenwehr der Häftlinge. In einer Situation in der es kein Ziel gibt, wird das Opfer des eigenen Lebens sinnlos, auch weil niemand da sei, der es anerkennen könnte. Sterben sei sinnlos, argumentiert Neurath, da keine Ehre zu retten gewesen sei.

Neuraths Buch ergänzt auf beeindruckende Weise die Beschreibungsversuche der Systematik des KZ-Systems bzw. des Ortes "KZ" von Eugen Kogon und Wolfgang Sofsky. Neuraths Dissertation wird von der Promotionskommission der Columbia University zuerst abgelehnt, da sein Zugang nicht wissenschaftlich genug sei und er das KZ nicht vollständig erfassen würde. Nach mehreren Korrekturen wurde sie schlussendlich angenommen. Neurath konnte seinen Doktortitel jedoch nicht führen, da er sich die geforderten Kopien seiner Arbeit nicht leisten konnte.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde seine Arbeit nicht zur Kenntnis genommen. Später verschwanden Neuraths Schilderungen gegen den Schrecken der Geschichten der Überlebenden aus den Vernichtungslagern. Neurath widmete sich der empirischen Sozialforschung und der Statistik und unterrichtet bis zu seiner Emeritierung 1977 am Queens College in New York. Über das System der nationalsozialistischen Lager hat der 2001 verstorbene Neurath nie gelehrt.

Ergänzende Literatur

  • Eugen Kogon: Der SS- Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. (1977) Heyne München
  • Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager. (1997) Fischer Frankfurt am Main

 

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