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Hugo. Der unwerte Schatz

 Ein Roman über die „Kindereuthanasie“

 Tino Hermann: Der unwerte Schatz. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2005, 408 S., € 24,90.

Für die Zeit des Nationalsozialismus bezeichnet „Euthanasie” die als "Gnadentod" bzw. Aktion T4 verschleierte Tötung durch Gift und Giftgas von über 70.000 so genannten körperlich und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen in den speziell eingerichteten Tötungsanstalten von Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim/Linz und Sonnenstein/Pirna zwischen Oktober 1939 und August 1941. Ab 1941 wurde sie dezentral weitergeführt und forderte bis 1945 über 200.000 weitere Opfer durch Giftinjektionen, Nahrungsentzug und Erschießungen darunter auch Tausende jüdische Patienten, KZ -Häftlinge ("Sonderbehandlung 14f13 ") und so genannte Behinderte in Polen und der Sowjetunion .

Tino Hemmann erzählt in seinem Buch die Geschichte eines dieser Kinder. Seine Erzählung ist fiktiv, orientiert sich aber an den nachgewiesenen Morden an unzähligen als verhaltensauffällig bezeichneten Kindern aus der Unterrichts- und Pflegeanstalt des Gertrudenheims bei Oldenburg. Einige der nationalsozialistischen Mörder des Euthanasieprogramms werden im Buch anhand ihrer realen Namen identifizierbar gemacht.

Hugo Hassel wird Heiligabend 1931 in Leipzig geboren. Sein Vater, im Zuge der Weltwirtschaftskrise arbeitslos geworden und frühes Mitglied in der SA, misshandelt den Jungen, wenn dieser nicht das erwünschte Verhalten zeigt. Hugos Mutter und Schwestern ignorieren die Schwierigkeiten des Jungen und die Übergriffe des Vaters. Um die Gewalt zu ertragen entwickelt Hugo eine multiple Persönlichkeit. Fortan erträgt Fritz, Hugos Zwillingsbruder und bester Freund, die Schläge. Zugleich hat er aber auch immer wieder Träume, in denen er grausame Begebenheiten sieht. Eines Tages erzählt er seinem Bruder von seiner bevorstehenden Vernichtung in Pirna/Sonnenstein.

Trost findet Hugo auch beim Besitzer eines kleinen Ladens, einem jüdischen Deutschen, den er Onkel Mutzmann nennt. Bei der Schuluntersuchung diagnostizieren Ärzte Hugos außergewöhnliche Intelligenz sowie eine Persönlichkeitsstörung und weisen ihn zur Beobachtung in die Psychiatrie ein. Hier trifft Hugo auf seine zwei Behandler, den karriereorientierten Prof. Rasch, der durch die Untersuchung von Hugos Gehirn seine Forscherkarriere beschleunigen will und Prof. Walther, der versucht dem Jungen über die erlebte Gewalt hinwegzuhelfen.

Die scheinbar positiven Seiten der NS-Volksgemeinschaft erfährt Hugo durch die Schule. Beim Ernteeinsatz mit der Klasse und dem Lieblingslehrer Freiherr von Mengen, einem überzeugten Nationalsozialisten, entsteht eine Erlebnisgemeinschaft auf der Basis von gemeinsamer Aufgabe und Herausforderung. Hugo wird zum Lieblingsschüler des Lehrers, dessen geschlossene Ideologie mit der Zuneigung zu einem nicht in die Kategorisierung des gesunden Volkskörper passenden Menschen ins Wanken gerät.
Tino Hemman ist es gelungen, sich dem schwierigen Thema der Euthanasie behutsam zu nähern und mit seinem Buch zu berühren. Überzeugend ist insbesondere seine nichtwertende Annäherung an all das was als „verrückt”, „behindert”, „gestört” oder „auffällig” galt und gilt. In dem er im Epilog auf die Diskussionen um pränatale Diagnostik und Sterbehilfe mit dem Rückgriff auf die ärztlichen Eide verweist, nimmt er eine wertende Aktualisierung des historischen Geschehens vor, ohne jedoch zu belehren.

Damit unterstützt er die schwierige Suche der Leser/innen nach einer eigenen Positionierung in diesen Fragen. Weniger überzeugt die Erzählweise des Romans. Hemmann versucht alle wesentlichen ereignisgeschichtlichen Fakten der NS-Zeit als Erlebnisse seiner Protagonist/innen in die Geschichte zu integrieren. So tritt der arbeitslose Vater erst aus Karrieregründen in die SA ein, wird dann aber als ideologisch überzeugtes Mitglied zum Verlierer der Konfrontationen zwischen SA und SS und marschiert später als Soldat in die annektierte Tschechoslowakei ein.
Hugos „Onkel Mutzmann” wird Opfer der marodierenden Deutschen in der Reichsprogromnacht, Prof. Walther stirbt an der Ostfront. Hier ermüdet die Unentschiedenheit der Erzählweise – schwankend zwischen Tatsachendokumention, fiktiver Geschichte oder einem Geschichtsbuch mit biographischen Illustrationen – sowie die didaktisierende Erzählweise etwas. Auch die Protagonisten werden so nicht wirklich als Charaktere entwickelt, sondern agieren als Platzhalter für die Geschichte bestimmter Gruppen.

Die inhaltliche Überfrachtung wird zusätzlich gesteigert durch die Verquickung der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Gewaltstrukturen mit historisch ungebundenen wie der sexualisierten Bedrohung durch den Pfarrer eines Waisenhauses, in dem Hugo eine Zeit lang lebt. Auch die Perspektive des kindlichen Erzählers, wie sie sich auch in vielen anderen Romanen findet, wirkt im vorliegenden Buch teilweise unglaubwürdig. Zum Einen zeichnet sich der kleine Hugo durch ein hohes Beobachtungs- und Analysevermögen historisch erst im Nachhinein kontextualisierter Ereignisse aus. Zum Anderen wird er durch seine Träume zum Weissager u.a. der (eigenen) Vernichtung. So verliert sich der wichtige Versuch, die reale Geschichte des Leidens und der Vernichtung dieser Kinder im Rahmen des Euthanasieprogramms darzustellen in einer phantastisch anmutenden und damit leider überwiegend nicht überzeugenden Erzählung.

 

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