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Ein "Geltungsjude" gibt Zeugnis vom Untergang Königsbergs

Wieck, Michael: Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein "Geltungsjude" berichtet. (2005) Beck München, 404 S., 37 Abb., 14,90 € (mit einem Vorwort von Siegfried Lenz)

Michael Wieck, Violinist und zuletzt 1. Konzertmeister im Stuttgarter Kammerorchester und Mitglied im Radio-Symphonieorchester Stuttgart, wurde 1928 in Königsberg geboren. Er wuchs in einer gutbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie auf.

Mütterlicherseits waren seine jüdischen Vorfahren einerseits in einer lange zurückzuverfolgenden Linie Rabbiner, anderseits aber auch bereits im 19. Jahrhundert der Moderne zugewandte Ingenieure. Einer der Großväter war der erste jüdische Regierungsbaumeister in Preußen.

Die väterliche christliche Familie Wieck, entfernt verwandt mit Clara Schumann-Wieck, lebte im feudalen Berlin-Grunewald, wo der Großvater Direktor, Amts- und Gemeindevorsteher des Bezirks war. Die Großmutter war Schwedin und eine geborene Palme, Großtante des schwedischen Sozialdemokraten und Ministerpräsidenten Olof Palme, der 1986 einem Attentat zum Opfer fiel.

Das Berliner Haus der Großeltern war Treffpunkt musikalischer und kultureller Aktivitäten. Michael Wieck wuchs in diesem paradoxen Milieu auf, einerseits mit bewunderten Persönlichkeiten verwandt zu sein, andererseits nach 1933 zu den offizielle verfemten zu gehören. Als sogenannter Geltungsjude, Kind einer christlichen Mischehe erlebte er während des Nationalsozialismus Diskriminierung, Ausgrenzung, den Verlust jeglicher Sicherheit und die Deportation von Freunden und Verwandten.

In seinem eindringlichen autobiographischen Bericht schildert er das Königsberg seiner Kindheit und Jugend. Er erzählt von der Herrschaft des Nationalsozialismus und beschreibt die Zerstörung Königsbergs durch alliierte Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg und die Belagerung durch die Rote Armee. Mit der Einnahme Königsbergs folgte für Michael Wieck die Inhaftierung im sowjetischen Internierungslager Rothenstein.

Während der NS-Herrschaft gab der nichtjüdische Vater Schutz, nach Kriegsende retteten allein Mut und Einfallsreichtum des Sohnes die Eltern. Kraft und Trost fand Michael Wieck in seiner Musik, die ihm früh zur Berufung geworden war.

Siegfried Lenz schreibt in seinem Vorwort zur deutschen Neuauflage über den Autor Michael Wieck: "Die Urteile, die er fällt - über die Mächtigen und ihre Mitläufer, über Opfer und Sieger, - offenbaren einen eindrucksvollen Geist der Gerechtigkeit. Daß alle geschichtliche Prozesse ihrer eigenen Kausalität unterliegen, verliert der urteilende Autor nie aus dem Blick, und deshalb fragt er sich, zum Beispiel, zitternd in dem Keller seiner zerstörten Stadt, ob nicht die Granaten und Bomben, die Königsberg den Tod bringen, als Antwort gesehen werden müssen für das, was deutsche Invasoren in Leningrad und in hundert anderen Städten der Sowjetunion verübt haben. Er fragt und fragt, entsetzt manchmal, kaltblütig und auch furchtsam und mutig, und alles Fragen führt ihn immer wieder zu dem Eingeständnis, daß nur Vernunft und Toleranz eine Hoffnung für unsere Fortdauer bieten.“

Wiecks sensibel und souverän verfasste und mitreißend zu lesende Erinnerungen sind, obwohl es bereits viele Zeitzeugenberichte von Verfolgten gibt, ein in besonderer Weise wichtiges Dokument der Zeitgeschichte und der Geschichte Königsbergs.

Die Autobiographie erschien erstmals bereits 1988 in einem kleinen Heidelberger Verlag, erlebte dann aber sechs Nachauflagen und wurde 2003 ins Englische übersetzt: A Childhood Under Hitler and Stalin - Memoirs of a "Certified Jew", University of Wisconsin Press.

Mit Unterstützung des Deutschen Kulturforums östliches Europa und dem St. Petersburger Hyperion Verlag konnte rechtzeitig zur 750 Jahrfeier Königsbergs - Kaliningrads, die im Jahr 2005 begangen wurde, eine russische Ausgabe mit dem Titel Zakat Kenigsberga. Svidetel’stvo nemeckogo evreja, 2004 in Potsdam im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa herausgebracht werden. Die russische Ausgabe wurde in der Kaliningrader Universität vorgestellt und in der örtlichen Presse besonders hervorgehoben wurde. Der Gouverneur des Kaliningrader Gebiets, Wladimir Jegorow, nannte Michael Wiecks Zeugnis vom Untergang Königsbergs das "wichtigste Buch über Königsberg", das er jedem zur Lektüre empfiehlt. 

 

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