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Wir waren keine Helden

Eva Fogelman: 'Wir waren keine Helden". Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. (1998) Deutscher Taschenbuchverlag München

„Im Jahr 1942 wurde Wladyslaw Misiuna, ein Jugendlicher aus Radom in Polen, von den Deutschen herangezogen um einigen Gefangenen des KZ Majdanek beim Aufbau einer Kaninchenzucht zu helfen: Die Soldaten an der russischen Front brauchten Pelze.

Wladyslaw fühlte sich für die 30 jungen Frauen, die er zu beaufsichtigen hatte, verantwortlich. Er stopfte sich die Manteltaschen mit Brot, Milch und Karotten voll und schmuggelte die Lebensmittel ins Lager zu den Frauen.

Aber eines Tages zog sich eine der Arbeiterinnen, Devora Salzberg, eine seltsame Infektion zu. Misiuna war außer sich. Er wusste, dass die Deutschen sie umbringen würden, wenn sie die offenen Wunden zu Gesicht bekämen. Er musste sie kurieren, aber wie? Er wählte den einfachsten Weg. Er infizierte sich mit ihrem Blut und ging zu einem Arzt in der Stadt. Der verschrieb ihm ein Medikament, dass er dann mit Devora Salzberg teilte. Beide wurden geheilt und überlebten den Krieg.“(S. 89)

Mehr als zehn Jahre lang hat Eva Fogelmann mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern solche Geschichten von mehr als 300 Retterinnen und Rettern gesammelt. Ziel war es, im Rahmen eines sozialpsychologischen Forschungsprojektes, herauszufinden, was Menschen dazu brachte, nicht zu gehorchen.

Das Projekt steht damit im Zusammenhang mit den Arbeiten von Stanley Milgram, der in seinem berühmt gewordenen Experiment aufzeigte, dass Menschen die Verantwortung für ihre Taten abtraten, sobald dies von einer Autoritätsperson diktiert wurde. Fogelmann u.a. interessierte hingegen altruistisches Verhalten. Sie verstanden Altruismus dabei als konstante Charaktereigenschaft, deren Umsetzung aber von den zur Verfügung stehenden Ressourcen abhängig ist. Untersucht werden sollte, ob die Retter/innen gemeinsame Züge aufweisen würden und ob es möglich sei, ihren moralischen Mut weiter zu vermitteln.

Eva Fogelmann schildert in ihrem Buch sehr ausführlich und eindringlich die Geschichten von Rettungen. Ihre Vielfalt belegt einmal mehr, welche Handlungsspielräume für Individuen in Deutschland und den besetzten Gebieten bestanden. Vorgestellt werden drei Gruppen von Retterinnen und Rettern: moralisch Motivierte, sog. Judeophile (in erster Linie Freunde, Verwandte (durch Mischehe),  ehemalige Geschäftspartner, Arbeitgeber oder Kollegen sowie Menschen, die sich von Berufs wegen engagierten (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und Diplomaten).

Die Autorin verweist auf die Bedeutung frühkindlicher Prägung und Erlebnisse. Viele der Retterpersönlichkeiten hätten einen liebevollen und demokratischen Erziehungsstil erlebt in dem Nächstenliebe, Achtung und Toleranz fest Werte gewesen seien. Diese Menschen hätten später den Mut gehabt hinzuschauen und zu sehen, was andere nicht sehen wollen. Sie bleiben ihren Wertvorstellungen treu, auch wenn ihre Umwelt mehrheitlich anderen Maßstäben folgte: "Wer einem Verfolgten helfen wollte, brauchte einen unabhängigen Kopf.“ (S. 252) Und sie handelten entsprechend ihrer Werte, wenn sie die Möglichkeit dazu sahen.

Fogelmanns Buch ist nicht nur wegen der vielen biographischen Geschichten eine wichtige Quelle für das historische Lernen über den Nationalsozialismus. Ihre Analyse birgt wichtiges Hintergrundwissen für all diejenigen Pädagog/innen, die die oftmals leere Formel der „Gegenwartsbedeutung der Geschichte des Nationalsozialismus“ mit Inhalt füllen möchten.

 

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