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Stefan Heym: 5 Tage im Juni

Über die Entscheidungsfreiheit des Individuums

Stefan Heym: 5 Tage im Juni. (2005) btb Verlag Berlin, 365 S., 9 €

"5 Tage im Juni" gehört zu den frühesten Romanen des im Jahr 2001 verstorbenen Schriftstellers und ehemaligen Alterspräsidenten des deutschen Bundestages Stefan Heym.

Er entwirft im Stil einer Chronik ein Gewebe aus Prosa und Reportage über die dramatischen Tage im Juni des Jahres 1953. Der Protagonist Witte, ein überzeugter Kommunist und Gewerkschaftsvertreter, mit seinen Zweifeln an der Parteilinie, an den Normenerhöhungen, die den unmittelbaren Anlass für die Unruhen gegen die Politik der SED boten, ist keine historische Figur. Aber er stellt den Prototyp eines kleinen DDR-Funktionärs dar, der zwischen seinen eigenen Idealen, der Notwendigkeit autonomen Denkens und der Parteiräson schwankt.

„Wahrscheinlich wäre es für den inneren Komfort einer ganzen Anzahl von Zeitgenossen besser, Leute wie ich wären umgekommen. Wir sind zu dauerhaft. Und wir sind zu unbequem, weil wir das Denken der Menschen zu verändern suchen.“

So lässt Heym seine Figur sprechen, die einerseits zu den Menschen gehört, die als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus einen sozialistischen Staat aufbauen wollten und die anderseits im Klima des nachwirkenden Stalinismus und durch die autoritäre Prägung des DDR-Staates in persönliche Dilemmata geraten.

Denn, und dieser Aspekt begleitet den Text, die ostdeutsche Gesellschaft ist eine nach-nationalsozialistische. Die Verdrängung der eigenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus, in Vernichtungskrieg und Shoah durch weite Teile der Bevölkerung, wie auch Formen von Gegenwehr, die im staatsoffiziellen Antifaschismus schließlich Teil einer entschuldigenden Deckerinnerung werden, spielen in die Erzählung hinein.

Wenn auch Stefan Heym nicht zu den sprachgewaltigsten deutschsprachigen Schriftstellern gehört, bezieht die Handlung von ‚5 Tage im Juni’ ihre Spannung aus der Mischung von Fiktion und Reportage. Die erzählenden Passagen des Romans, zählen countdownartig auf den Tag X, so der ursprünglich angedachte Titel, herunter und werden verschiedentlich angereichert mit Quellenmaterial der Zeitgeschichte. Dazu gehören Zitate aus den Statuten der SED ebenso wie Zeitungsartikel der DDR-Presse oder Erklärungen des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS).

Heym beschreibt die Vorgeschichte der Erhebung gegen die Regierung ebenso, wie die berechtigten Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen, aber auch die Einflussnahmen von westlicher Seite bis hin zur blutigen Niederschlagung durch die sowjetischen Militärbehörden. Es ist unschwer nachzuvollziehen, warum der Schriftsteller mit seiner Haltung in der DDR zur Unperson wurde.

Heym, der nach dem erzwungenen Exil, als Sergeant der amerikanischen Armee, nach Deutschland zurückkehrte und nach Ost-Berlin übersiedelte, begriff seine Kritik am Parteiregime nie als eine fundamentale Gegnerschaft zu einem Sozialismus mit humanistischem Antlitz, den er erhoffte. Die Figur des Genossen Witte könnte in ihrem Dilemma durchaus autobiografisch interpretiert werden.

Zur Vertiefung lohnt sich die Lektüre eines Memorandums des Schriftstellers aus der Sammlung "Wege und Umwege" vom 21. Juni 1953, das er an den sowjetischen Chefredakteur der Täglichen Rundschau, Oberst Sokolow, gerichtet hatte und in dem er offiziell auf Fehler und Versäumnisse der Behörden hinwies.

Der Roman "5 Tage im Juni" bietet Schülerinnen und Schülern sowohl einen Zugang zur Person des Autors, als auch zu der komplexen Situation von Bürgern und Bürgerinnen in der Frühphase der DDR. Er ist somit gut geeignet für eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem autoritären Staatssozialismus, mit Funktionärsherrschaft, aber vor allem mit den Möglichkeiten der Entscheidungsfreiheit des Individuums darin und dem Ringen eines Einzelnen um eine Gesellschaft, welche die Lehren aus dem Nationalsozialismus zieht.

 

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