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Operation Nemesis

Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. (2005) Kiepenheuer und Witsch Köln

Im Vorfeld des 24. April 2005, des 90. Jahrestages zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern, setzte sich erstmals auch ein deutscher Bundestag mit den historischen Ereignissen auseinander, in die kein anderes europäisches Land damals so verstrickt war, wie das kaiserliche Deutschland auf Grund des Militärbündnisses mit der Türkei und seiner geostrategischen und ökonomischen Interessen durch das Bagdadbahnprojekt.

Am 24. April 1915, dem Tag der Landung der alliierten Kriegsgegner der Türkei auf Gallipoli, ließ die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches in Istanbul Hunderte bürgerliche Intellektuelle - Schriftsteller, Journalisten, Ärzte, Lehrer, Kaufleute sowie führende politische Persönlichkeiten der osmanischen Armenier verhaften, deren Namen schon Wochen zuvor auf Veranlassung des Innenministers Talaat Pascha in geheimen Listen erfasst worden waren. Nach brutalen Verhören wurden sie nach Anatolien deportieren und die meisten von ihnen dort erschlagen.

Der 24. April gilt heute in der westlichen Geschichtsschreibung als Beginn eines von der türkischen Regierung unter dem Schutz des Bündnisses mit dem Deutschen Kaiserreich systematischen, planmäßig durchgeführten Völkermords an den Armeniern, der unübersehbar Parallelen zur Völkermordpraxis der Nationalsozialisten und zu "Ethnischen Säuberungen" bis in unsere Tage aufweist. Zwar errichteten die Jungtürken keine Vernichtungslager, aber die Vernichtungsmethoden durch Massenerschießungen und Tod durch Verdursten und Verhungern in der mesopotamischen Wüste hatten das gleiche Ziel.

Deutsche kaiserliche Offiziere und Diplomaten waren direkte Zeugen der zwischen 1915 und 1917 im Schatten des Ersten Weltkrieges auf dem Territorium des Osmanischen Reiches gezielt durchgeführten Deportationen und Vernichtungsaktionen, bei denen mehr als eine Million Armenier getötet und auch Hunderttausende Angehörige anderer nicht-türkischer christlicher Minderheiten, Assyrer, Griechen und Araber Opfer von Enteignungen, Vertreibungen und Massakern wurden. Kurden, denen man Teilhabe an der Beute versprach, beteiligten sich vielfach als Helfershelfer der Täter an Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Mordorgien.

Die Türkei leugnet bis heute vehement diesen Genozid, bedroht mit Strafe und verfolgt türkische Bürger, die es wagen, öffentlich über den Völkermord zu sprechen. Türkische Lehrer sind zur Leugnung des Völkermords im Unterricht verpflichtet. Doch der Genozid fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt, es wurde damals viel in der internationalen Presse darüber berichtet und auch ohne die noch immer weitgehend unzugänglichen türkischen Archivakten sind die Tatsachen hinreichend und unzweifelhaft dokumentiert.

Die Deutschen, denen dieses Verbrechen nicht zuletzt durch Franz Werfels Roman über die "Vierzig Tage des Musa Dagh" bekannt sein dürfte, sollten viele Gründe sehen, sich mit dieser Geschichte zu befassen. Doch auch deutsche Historiker haben sich mit dieser Thematik bisher auffällig wenig beschäftigt. Der Fall berührt das politische Grundverständnis der Bundesrepublik und insbesondere die deutsche Erinnerungskultur unmittelbar. Weiteres Ausweichen macht Holocaustgedenken und Gedenkstätten letztlich unglaubwürdig. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" fragte Hitler wenige Tage vor dem Überfall auf Polen rhetorisch vor Wehrmachts- und SS-Generälen, denen er seine Kriegspläne darlegte.

Er kalkulierte mit der Gleichgültigkeit und dem Wegschauen der Weltöffentlichkeit und behielt damit leider weitgehend recht. Vergessen ist auch, dass Raphael Lemkin, bereits 1921 unter dem Eindruck des Völkermords an den Armeniern an ein Weltgesetz "gegen diese Form von rassisch und religiös begründetem Mord" dachte, das erst nach der zweiten Katastrophe des Holocaust als UN-Völkermordkonvention zustande kam.

Das spannend zu lesende, ausgezeichnet recherchierte Buch des Historikers und Publizisten Rolf Hosfeld beginnt mit des Schilderung der Ermordung des Planers und Organisators des Genozids, des nach Deutschland geflohenen türkischen Innenministers Talaat Pascha, den der armenischen Studenten Soghomon Tehlirjan am fünfzehnten März 1921 in Berlin in der Hardenbergstrasse erschoss,- ein Akt der Rache und der "Operation Nemesis", so der Titel des Buches. Diese Organisation hatte sich zum Ziel gesetzt, all jene Täter aufzuspüren und hinzurichten, die der Strafgerichtshof in Instanbul in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte und die mit Hilfe ihrer Verbündeten entkommen waren.

In einem nur zwei Tage dauernden Schwurgerichtsprozess des Landgerichts III zu Berlin von 1921 wurde der Attentäter freigesprochen, ein Urteil, das damals von Demokraten und Armenierfreunde als nachträglicher Versuch, dem Völkermord an dem armenischen Volk gerecht zu werden, verstanden wurde, aber auch um Erörterungen der deutsche Mitverantwortung zu vermeiden. Hosfeld schildert übersichtlich und ohne die Historikern oft eigene Weitschweifigkeit die politischen und kulturellen Entwicklungen der Täter, ihre Orientierung am damals modernen völkisch-biologistischen Nationalismus in Europa und ihre Opposition zum osmanischen Konservatismus.

Die Armenier, die politische Gleichberechtigung erstrebten und deswegen schon zur Zeit des Sultans Hamid II. schlimmen Massakern ausgesetzt waren, galten den chauvinistischen Jungtürken als störender Fremdkörper im Staat, der entfernt werden müsse. Viele strukturelle Ähnlichkeiten lassen sich im Vergleich zur NS-Ideologie und Verfolgungspraxis erkennen: die rassistische Abwertung der Minderheiten, Verschwörungstheorien, die Enteignung und Vertreibung rechtfertigen sollen. Hosfelds Buch ist bestens dazu geeignet, dieses weithin vergessene und verdrängte Kapitel der Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und Lehrer dazu anzuregen, es im Unterricht zu behandeln.

 

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