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Religiöse Lebensweisen - schutzwürdig oder menschenrechtsverletzend?

Heiner Bielefeld, Volkmar Deile, Brigitte Hamm (Hg.): Jahrbuch Menschenrechte 2009. Religionsfreiheit. (2008) Böhlau Wien, Köln, Weimar

Die Anschläge des 11. September haben das Thema "Religion" in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewusstseins gerückt. Der "Kampf gegen die Ungläubigen" zeigt, wie der "Kampf des Guten gegen das Böse" die Schattenseite religiös begründeter Solidarität, Nächstenliebe und Toleranz - Fundamentalismus, Fanatismus und Hass. Aber auch die globalen Migrationsprozesse, die zu sich zunehmend religiös pluralisierenden Gesellschaften führen, tragen, so die Herausgeberin und Herausgeber des Bandes, dazu bei, dass Religion und Religionsfreiheit zu zentralen innen- und außenpolitischen Themen werden.

Mit dem Jahrbuch Menschenrechte 2009 liegt nun ein Sammelband vor, der sich der Frage zuwendet, wie Religionsfreiheit umgesetzt wird und wie sie möglicherweise den aktuellen Herausforderungen entsprechend sogar weiterzuentwickeln wäre. Zentraler Ausgangspunkt für solche Überlegungen ist die Genese dieses Menschenrechts.

Norbert Brieskorn zeigt in seinem Beitrag mit dem Begriff der Staatsreligion, wie eng, historisch gesehen, die Religionsfreiheit mit Fragen der politischen Herrschaft und gesellschaftlicher Homogenität verknüpft war. Nicht zuletzt deshalb ist es auch der Staat, von dem er fordert, die Bedingungen für ein tolerantes Miteinander zu gewährleisten. Heiner Bielefeldt weist auf die aktuellen Kontroversen hin. In Deutschland sei umstritten, ob die Anhänger aller Glaubensgemeinschaften, also auch die sog. Psychosekten die volle Religionsfreiheit genießen sollten. Während die Kirchenglocken selbstverständlich zum Alltag gehören, lösen Muezzinrufe noch immer Proteste und Reglementierungsversuche aus. Eltern verweigern ihren Kindern mit Verweis auf ihre Religion bestimmte Formen medizinischer Behandlung oder möchten sie von Teilen des Unterrichts oder schulischer Aktivitäten befreien. International umstritten ist besonders das Recht auf einen Religionswechsel. Saudi-Arabien verweigerte schon 1948 die Zustimmung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus diesem Grund. Und nicht zuletzt ist die Religionsfreiheit in aller Munde, wenn es wie im Falle des so genannten Karikaturenstreits darum geht, ihre Grenzen zum Beispiel im Bezug auf das Recht auf Meinungsfreiheit zu bestimmen.

Bielefeldt macht hier wie auch andere Autoren des Bandes deutlich, dass es zunächst immer zuerst um die Religionsfreiheit Einzelner oder von Gruppen gehe. Diese hätte der Staat unter den Maßgaben des menschenrechtlichen Diskriminierungsverbotes zu gewährleisten. Es könne jedoch nicht um einen Schutz der Religion an sich z.B. vor Kritik gehen.

Die Schwierigkeit, das Diskriminierungsverbot im Sine der Religionsfreiheit anzuwenden, beschreibt Susanne Baer. Am Beispiel des so genannten Kopftuchstreits - Soll es Lehrerinnen in deutschen Schulen erlaubt sein, während der Arbeit ein Kopftuch zu tragen um sich zu bedecken? - zeigt sie auf, wie scheinbar nichtdiskriminierende Regelungen de facto zu Diskriminierungen führen können. So bedeutet ein Verbot religiöser Bekleidung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Diskriminierung, da sich muslimische Lehrer im Gegensatz zu Lehrerinnen durch lange Pullover und Hosen "unauffällig" bedecken können. Zweitens wäre auch zu überprüfen, ob das o.g. Verbot nicht diejenigen Religionsgemeinschaften benachteiligt, deren Mitglieder Bekleidungsvorschriften als verbindlich und unumgehbar verstehen.

Wie auch Bielefeldt weist Baer darauf hin, dass es kaum möglich sein wird, eine konfliktfreie Deutung der Religionsfreiheit vorzunehmen, sondern dass dieses Recht weiterhin Anlass zu gesellschaftlicher und politischer Kontroverse geben wird. Gerade deshalb wäre es schön gewesen, hätten sich einige Artikel des Sammelbandes auch unter der Perspektive der Menschenrechtsbildung mit dem Thema "Religionsfreiheit" auseinandergesetzt. Stellt sich für Pädagoginnen und Pädagogen ja neben der strukturellen Frage, wer an den Schulen welche Religion unterrichten soll, vor allem auch die inhaltliche Frage, wie ein menschenrechtsbasierender Unterricht realisiert werden könnte.

Hier kann den Leserinnen und Lesern des Jahrbuches aufgrund der Leerstelle des Buches nur empfohlen werden, sich im Anschluss an die Lektüre des Jahrbuches mit der Arbeit des "Advisory Council of Experts on Freedom of Religion or Belief" im Rahmen der OSZE zu beschäftigen. 2007 hat diese Arbeitsgruppe die sog. Toledo-Prinzipien veröffentlicht, die eine Richtschnur für die Erarbeitung von Curricula zur pädagogischen Behandlung von Religions- bzw. Weltanschauungsfragen bieten.

Die bisher nur in englischer Sprache vorliegende Publikation kann unter http://www.osce.org/odihr/item_11_28314.html heruntergeladen oder kostenfrei bestellt werden. Im Jahrbuch Menschenrechte finden sich neben einführenden historischen und systematisierenden Artikeln auch Beiträge von Autor(inn)en, die sich mit der Religionsfreiheit in ausgewählten Nationalstaaten oder Regionen beschäftigen. Besonders positiv hervorzuheben ist die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Beiträge, die dabei auf einem hohen Niveau argumentieren. Das Vorhaben der Herausgeberin und Herausgeber, Menschenrechte verständlich zu machen, wird erfüllt.

Ein Archiv fast aller Artikel aus den Jahrbüchern 1999-2006 finden Sie unter http://www.jahrbuch-menschenrechte.de/ in der Rubrik: JMRonline, Unterrubrik: Archiv. Unter der Rubrik: JMRonline finden Sie ebenfalls ein Register, in dem alle Jahrgänge bis einschließlich 2007 nach Schlagworten erfasst sind.

 

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