In seiner vergleichenden Studie über Massaker bezieht sich der französische Politikwissenschaftler auf die Entrechtung und Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten (1933-1945), auf die Massaker in Ruanda (1994) und auf die Kriege in den jugoslawischen Nachfolgestaaten (1990-1995). Dabei versucht er jene sozialen, politischen, militärischen, wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Prozesse hervorzuheben, die den "Massakern" gemeinsam sind. Er geht dabei interdisziplinär vor und interpretiert seine umfangreichen Materialien und Quellen mit Erkenntnissen aus der Soziologie, Politologie, Psychologie und Ethnologie.
Da Sémelin den Begriff des "Genozids" bzw. "Völkermords" für zu stark juristisch besetzt hält, führt er "Massaker" als beschreibenden Begriff für die kollektive Vernichtung von Zivilistinnen und Zivilisten ein. In seinem Buch beschreibt er den Verlauf der massenförmigen Gewaltdynamiken anhand der genannten Beispiele. Dabei interessiert ihn vor allem wie sich der Übergang von der abstrakten Idee der Vernichtung zur konkreten Umsetzung vollzieht.
Als entscheidende abstrakte Ideen beschreibt Sémelin die Rhetoriken des identitären Kollektiven, des Verlangens nach Reinheit sowie nach Angstfreiheit bzw. Sicherheit. Der Prozess gewalttätiger Umsetzung offenbart sich als vielschichtig. Kollektive und individuelle Dynamiken politischer, sozialer und psychologischer Art greifen ineinander. Massaker geschehen in einem vierstufigen Prozess. Eine Krisensituation löst kollektive Ängste aus. Ideologisch wird durch geistliche und weltliche intellektuelle und politische Eliten ein Feind konstruiert und diese Konstruktion über Medien verbreitet, bis sie schließlich nicht nur diskurs- sondern auch mehrheitsfähig ist. Der konstruierte Feind zieht Hassgefühle und Aggressionsgefühle auf sich. Diese können in der Vernichtung dieser Feinde - der "Anderen" - münden. Dabei braucht es einzelne Individuen, die bereit sind, sich an den Massakern direkt zu beteiligen, sowie eine unbeteiligte Bevölkerung, die diese gewähren lässt.
Entscheidend für die gewalttätige Realisierung der Vernichtungsideologien ist auch die erwartete und reale Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Sémelin betont, dass große Massaker, wie in den drei von ihm untersuchten Fällen, nur geschehen, weil sie von einer Zentralgewalt mehr oder weniger offen geplant, gefördert und ausgeführt wurden. Konsequenterweise beschließt der Autor seine Publikation mit einer Problematisierung der Souveränität der Einzelstaaten, beziehungsweise dem völkerrechtlichen Interventionsverbot. Er spricht sich für ein Interventionsrecht einzelner Staaten aus, dass jedoch nur Erfolg hätte, wenn militärische mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln kombiniert eingesetzt werden können. Der Misserfolg der internationalen Gemeinschaft im Sudan scheint diese These zu bestätigen.
Für Lehrende ist Sémelins Buch nicht nur interessant, weil es gut nachvollziehbar die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der untersuchten Massenverbrechen beschreibt. Es beinhaltet auch eine Fülle von zitierten Quellen, die im Unterricht oder in der außerschulischen Bildungsarbeit eingesetzt werden können.
Jacques Sémelin ist Professor für Politikwissenschaft in Paris und Forschungsdirektor am Centre d'étutes et de recherches internationales (CERI / CNRS) und Initiator einer Online-Enzyklopädie zur Massengewalt.
Weitere Publikationshinweise:
Mehr zu den Gründen und Folgen von Genoziden können Sie auf unserem Portal nachlesen: [node:3993]
Weiterhin finden Sie auf unserem Portal die Rezension eines Buches, das speziell für den Unterricht gestaltet wurde: [node:2461]
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- 02/12/2009 - 13:50