Wege zum Erinnern an Besatzung und Befreiung in Serbien und Polen. Ein Blick in die Projektpraxis
Sophie Ziegler
Die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 wirkt in unserer Erinnerung als eine Zäsur, als Ende des Zweiten Weltkrieges und Beginn einer neuen Zeitrechnung. Wenn wir auf das Kriegsende 1945 in der europäischen Erinnerung blicken wollen, ist es aber entscheidend zu berücksichtigen, dass der Fokus auf den Mai 1945 vorrangig aus einer deutschen Perspektive stammt: In vielen Regionen endeten Besatzung und Kriegshandlungen schon Monate früher, in anderen Teilen Europas und der Welt hingegen wurde der Krieg noch bis in den Sommer 1945 hinein weitergeführt. Zudem waren mit dem 8. Mai nicht alle Verbrechen und Traumata vergessen, jegliche Spuren des beinahe sechsjährigen Weltkrieges verschwunden – weder für die Menschen, die ihn erlebt hatten, noch für die Städte und Landschaften, in denen er getobt hatte.
Wie können wir 80 Jahre später an diese Spuren des Krieges erinnern? Ohne die Generation der Überlebenden und mit zunehmender zeitlicher Distanz braucht es neue Wege des Erinnerns: Zwei Projekte in Serbien und Polen zeigen, wie es gelingen kann, gemeinsam mit jungen Menschen die Spuren des Krieges und der Befreiung freizulegen und zu bewahren.
Das serbisch-deutsche Geschichtsprojekt „Liberation Routes“
Ein innovatives Beispiel ist das im Rahmen des Förderprogramms „JUGEND erinnert international“ vom Auswärtigen Amt und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) unterstützte serbisch-deutsche Geschichtsprojekt „Liberation Routes“. Der Potsdamer Verein Inwole und das Jugendzentrum CK13 aus Novi Sad erforschten 2024 gemeinsam mit jungen Menschen aus Serbien und Deutschland intensiv die Orte der nationalsozialistischen Verbrechen und des Widerstandes gegen den Faschismus im serbischen Nationalpark Fruška Gora. Zusätzlich entwickelten und gestalteten die beteiligten jungen Menschen zwei Wander- und zwei Fahrradrouten in der Region, um ein aktives Erleben der Geschichte zu ermöglichen.
Projekt Liberation Routes: Projektteilnehmer:innen aus Serbien und Deutschland im Frühjahr 2024 beim Stručica Denkmal in Fruška Gora, © Olena Vorobiova
Fruška Gora ist ein kleines Mittelgebirge, das nur eine halbe Autostunde von der serbischen Stadt Novi Sad und anderthalb Stunden von der Hauptstadt Belgrad entfernt liegt und zugleich einer der schönsten und größten Nationalparks des Landes ist. Als grüne Lunge der Region erstreckt sich Fruška Gora entlang des Donau-Ufers, ideal für die Flucht vor dem Trubel und der Hitze der Großstadt. Während des Zweiten Weltkrieges hingegen bot das hügelige und stark bewaldete Gebiet rund um Fruška Gora in der sonst flachen und landwirtschaftlich geprägten Region Vojvodina günstige topografische Bedingungen für den Partisan:innen-Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Verbündeten. Ab 1941 war das sogenannte Militärverwaltungsgebiet Serbien ein Satellitenstaat unter der Militärverwaltung des NS-Regimes. Faschistische serbische Freiwilligen-Korps beteiligten sich am Kampf gegen kommunistische Partisan:innen und unterstützten die deutsche Besatzungsmacht bei der Durchführung des Holocaust. In der deutschen Erinnerungskultur spielen bis heute die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Fortwirkungen auf dem Balkan kaum eine Rolle, dies möchte das deutsch-serbische Kooperationsprojekt ändern.
Auch die multikulturelle Region um Fruška Gora, in der neben Serb:innen unter anderem auch kroatische und slowakische Minderheiten sowie Rom:nja und Menschen jüdischen Glaubens lebten, war ein Schauplatz des globalen Krieges. Nachdem hier im April 1945 die letzten Kampfhandlungen endeten, war die Gesellschaft unwiderruflich verändert: Rom:nja waren verfolgt, vertrieben und ermordet worden, jüdisches Leben wurde in der Region fast vollständig ausgelöscht. Aber das Ende des Krieges kam nicht von allein, mutige Menschen kämpften für die Freiheit und ihre Werte, so wie die Partisan:innen von Fruška Gora, deren Geschichte eine der Wanderrouten nachspürt.
Die Tour beginnt inmitten des Waldes beim verlassenen Hotel Iriški Venac – das Gebäude aus den 1930er Jahren, einst für Wander-Tourist:innen erbaut, war während des Krieges von deutschen und kroatischen Militäreinheiten besetzt. Im Oktober 1944 wurde das Gebiet um das Hotel von jugoslawischen Partisan:innen-Einheiten befreit und in der Folge wechselten sich unterschiedliche Nutzungen der Anlage ab, wie auch das Schicksal der ganzen Region von steter Instabilität und Unruhe geprägt war.
Aus der Ferne sieht man bereits das 36 Meter hohe Freiheitsdenkmal von Iriški Venac: 1951 eingeweiht, erinnert der Obelisk an die gefallenen Kämpfer:innen der nationalen Befreiungsbewegung der Vojvodina. Die emotionale Bedeutung des Denkmals ist groß: Zur Eröffnung kamen über 100.000 Bürger:innen.
Weiter führt die Wanderung unter anderem vorbei an einem Gedenkstein für die „1. Kompanie der Donau-Partisanen“ – die Einheit wurde im Februar 1942 gebildet, bestand zunächst aus Kämpfer:innen aus der Region und operierte im östlichen Teil von Fruška Gora. Sie führten Sabotageakte durch und vertrieben die deutschen Besatzungstruppen aus den umliegenden Dörfern. Im ganzen Nationalpark Fruška Gora wurden zu ihren Ehren in den 1970er und 1980er Jahren Gedenksteine errichtet.
Die vom Projekt ausgearbeitete Tour führt durch die vielschichtige Vergangenheit einer Region, die nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Besatzung nicht zur Ruhe kam, sondern geprägt wurde durch den Sozialismus und ihm nachfolgende Bürgerkriege. Interesse an einer sportlichen Bildungsreise im grünen Norden Serbiens? Die Wander- und Fahrradrouten lassen sich auch auf den Outdoor-Apps Komoot und WikiLoc als GPS-Tracks abrufen.
Projekt „Plac Grunwaldzki – an untold story“
Einen ganz anderen Zugang wählte das Projekt „Plac Grunwaldzki – an untold story“, das im polnischen Wrocław, ehemals Breslau, die Geschichte eines Platzes und seiner Bewohner:innen zwischen Besatzung und Befreiung erforscht. Die lokale Stiftung Fundacja Ładne Historiewird im Förderprogramm „local.history“ von der Stiftung EVZ unterstützt und setzt sich in ihrem Projekt am Beispiel des Plac Grunwaldzki, eines Verkehrsknotenpunkts im Osten des Stadtzentrums, mit der vielfältigen Stadtgeschichte Wrocławs auseinander.
Warum dieser Platz und nicht ein Ort im gotischen Stadtkern? Der Plac Grunwaldzki ist ein Teil von Wrocław, der sich stark gewandelt hat. Die ihn durchquerende Hauptverkehrsader, die ehemalige Kaiserstraße, spielte eine entscheidende Rolle bei der Stadtplanung von Breslau. Wie ganz Polen litten auch Breslau und das Stadtviertel mit seinen Bewohner:innen um die Kaiserstraße stark unter der deutschen Besatzung ab 1939. Während der Belagerung Breslaus im Winter 1945 wurde die damalige Kaiserstraße abgerissen, um eine Landebahn für die Flugzeuge der deutschen Wehrmacht zu schaffen. Die Zerstörung der Gebäude rund um diese Straße in den letzten Kriegsmonaten forderte mehrere Tausend Opfer. Zwangsarbeiter:innen und Zivilist:innen mussten tags und nachts für den Bau der Piste arbeiten.
Wie haben sich der Plac Grunwaldzki und seine Bewohner:innen nach der Befreiung am 8. Mai 1945 verändert? Welche Auswirkungen hatte das Ende des Zweiten Weltkrieges auf die Bevölkerungsstruktur der Stadt? Nach der Befreiung erlebte Wrocław einen kompletten demografischen Wandel: Die deutsche Bevölkerung der Stadt wurde vertrieben und geflüchtete Pol:innen aus den ehemaligen ostpolnischen Gebieten (heute Teile von Litauen, Belarus und der Ukraine) zogen in die Stadt. Auch das völlig zerstörte Viertel rund um die einstige Kaiserstraße wandelte sich nach dem Ende des Krieges: Erst war es das Zentrum eines Schwarzmarkts, auf dem Lebensmittel und andere Waren getauscht wurden. Später entwickelte es sich, in den 1950er und 1960er Jahren radikal umgestaltet, zu einem Schwerpunktgebiet des Wohnungsneubaus und zu einem der wichtigsten sozialen und kommerziellen Zentren der Stadt, in dem sich auch immer mehr Universitätsgebäude ansiedelten. Die Umbenennung des zentralen Platzes in Plac Grunwaldzki verweist auf die Schlacht bei Grunwald 1410, ein historisches Ereignis, um das sich einer der wichtigsten nationalen Mythen der polnischen Geschichte rankt.
Projekt Plac Grunwaldzki: Blick auf die Gebäude am Plac Grunwaldzki (Mai 2024), © Anna Pazdej
Projektleiter Krzysztof Bielaszka betont, dass der Plac Grunwaldzki heute eine Brücke zwischen Geschichte und Moderne schlägt und sowohl Teil des Universitätsviertels als auch eines Wohnviertels ist. Das Projekt zielt darauf ab, die komplexen historischen Schichten durch künstlerische und pädagogische Aktivitäten gemeinsam mit den Anwohner:innen sichtbar zu machen. Interessierte Nachbar:innen beteiligten sich aktiv am Projekt: Sie unternahmen historische Stadtrundgänge mit lokalen Expert:innen, fertigten in Kreativworkshops Keramikfliesen, die von der historischen Architektur des Plac Grunwaldzki inspiriert sind, oder führten Interviews durch, in denen die Erinnerungen von langjährigen Bewohner:innen des Platzes dokumentiert und gesichert wurden.
Projekt Plac Grunwaldzki: Langjährige Anwohner:innen des Plac Grunwaldzki bei einer Stadtführung im Mai 2024, © Anna Pazdej
Durch diese gemeinsamen Aktivitäten wurde das Projekt zu mehr als nur einem Geschichtsprojekt – es förderte ein Gemeinschaftsgefühl und stärkte das gesellschaftliche Engagement in einem ganzen Stadtviertel. Es ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür, wie 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges partizipativ und inklusiv an die Spuren des Krieges erinnert werden kann.
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- 08/05/2025 - 09:53