Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland
Juliane Wetzel
Die Befreiung
Längst ist die Rede von der „Stunde Null“, mit der die Befreiung vom nationalsozialistischen Deutschland immer wieder markiert wurde, obsolet und empirisch widerlegt. Das Schicksal der jüdischen Überlebenden im Nachkriegsdeutschland beweist, wie wenig diese lang gehegte Metapher den tatsächlichen Ereignissen entspricht. Für diese Überlebenden, oder – wie sie sich selbst nannten – die „Sche’erit Haplejta“ („Rest der Geretteten“) war das Kapitel der Jahre 1933 bis 1945 erst abgeschlossen, als sie endlich Deutschland verlassen und nach Israel bzw. in die USA auswandern konnten.
Die jüdischen „Displaced Persons“ (DPs) waren lange Zeit ein in der Forschung kaum beachtetes Thema (Königseder/Wetzel 2004, passim). Und auch die Mehrheitsgesellschaft begann erst langsam im Rahmen von Geschichtsprojekten vor Ort damit, sich mit jüdischem Leben im Nachkriegsdeutschland zu beschäftigen. Allzu weit verbreitet war die Meinung, es gebe nach dem Holocaust keine Jüdinnen und Juden mehr in Deutschland.
In der Praxis galten als DPs ehemalige Zwangsarbeiter:innen, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile osteuropäische Arbeiter:innen, die aus rassistischen oder politischen Gründen bzw. aufgrund von Kriegseinwirkungen und deren Folgen geflohen, vertrieben oder verschleppt worden waren. Nicht darunter fielen die Millionen deutscher Flüchtlinge – Zivilist:innen aus dem Osten des Deutschen Reichs.
Auf dem Gebiet der späteren drei westlichen Besatzungszonen befreiten die Alliierten 6,5 bis 7 Millionen DPs. Eine vergleichsweise kleine Gruppe unter ihnen bildeten die 50.000 bis 75.000 jüdischen Überlebenden aus Ost- und Mitteleuropa. Sofern sie sich in der US-amerikanischen Zone aufhielten, erhielten sie einen sogenannten DP-Status, auch dann, wenn sie erst nach der Befreiung Deutschland erreicht hatten. Die britischen Militärbehörden hingegen verweigerten diesen Status generell all jenen, die nach dem 30. Juni 1946 ihre Zonengrenze passierten. Auch in der französischen Besatzungszone erhielten Überlebende einen DP-Status, allerdings befanden sich dort nur wenige jüdische DPs. In der sowjetischen Besatzungszone wurde kein solcher Status eingeführt; Überlebende fielen dort entweder unter die Kategorie der „Kämpfer gegen den Faschismus“, wenn sie als politisch verfolgt anerkannt wurden, oder galten als „Opfer des Faschismus“ und waren gegenüber den „Kämpfern“ schlechter gestellt.
DP-Lager in den westlichen Besatzungszonen
Mit dem DP-Status verbunden waren Betreuung, zusätzliche Verpflegung, Kleiderzuteilungen und Unterkunft in eigens dafür geschaffenen Lagern, den DP-Lagern, DP-Camps oder „Assembly Centers“. Sie wurden in Krankenhäusern, Sanatorien, Schulen, Industriearbeitersiedlungen, ehemaligen Kasernen, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeitslagern eingerichtet, aber auch vereinzelt auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager. Nahe dem Konzentrationslager Buchenwald, das nach der Befreiung bis zur Übernahme durch die sowjetische Armee im Juli 1945 als DP-Lager fungierte, entstand mit dem „Kibbuz Buchenwald“ die erste zionistische Ausbildungsfarm im Nachkriegsdeutschland. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen richtete die britische Besatzungsmacht das DP-Lager Belsen-Hohne ein, in dem zeitweise 27.000 DPs verschiedenster Nationen untergebracht waren und das bald – nach der Verlegung bzw. Repatriierung anderer DP-Gruppen – mit bis zu 15.000 Bewohner:innen zum größten jüdischen DP-Lager in Westdeutschland wurde.
Die Westalliierten standen vor der riesigen logistischen Herausforderung, die körperlich und psychisch geschwächten Überlebenden unterzubringen, ärztlich zu versorgen und zu verpflegen. Zudem hatten Pogrome in Osteuropa – vor allem in der polnischen Stadt Kielce – im Sommer 1946 zu einem Massenexodus jüdischer Überlebender aus der Region in Richtung Westen geführt. Zeitweise mussten in den Westzonen Deutschlands mehr als 200.000 jüdische DPs versorgt werden. Ende des Jahres 1946 lebten dort ca. 170.000 jüdische DPs (Jacobmeyer 1985: 122), von denen mehr als 50 % unter 25 bzw. 80 % unter 50 Jahre alt waren (Patt/Berkowitz 2010: 101). Ihr verhältnismäßig junges Alter führte dazu, dass in den Reihen der jüdischen DPs die höchste Geburtenrate weltweit zu verzeichnen war. Kinder waren ein Indiz für den Wunsch nach einer besseren Zukunft, die das bisher Erlebte vergessen lassen sollte.
Im Oktober 1945 hatte der Präsident der jüdischen Selbstverwaltung in der US-Zone, des „Zentralkomitees für die befreiten Juden“, der ehemalige Kovnoer Ghetto-Arzt Dr. Zalman Grinberg, in einer Rede in München konstatiert: „Hier sammelt sich der Rest des Judentums und hier ist der Wartesaal. Es ist ein schlechter Wartesaal, aber wir hoffen, dass der Tag kommen wird, an welchem man die Juden an ihren Platz führen wird.“ (Zit. n. Königseder/Wetzel 2004: 8).
Trotz der erlebten Verfolgung und des Verlusts des persönlichen und familiären Umfelds sowie der Tatsache, dass sie sich, soeben dem deutschen Terrorapparat entronnen, noch immer in Deutschland befanden, waren es gerade die jüdischen Überlebenden, die unter allen DPs am schnellsten wieder versuchten, der Lethargie zu entkommen. Innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft entwickelten sie ein beeindruckendes kulturelles und religiöses Leben, das in der jiddischen Tradition stand, sich aber auch an einer Zukunft in Eretz Israel orientierte. Schulen, Ausbildungs- und Sprachkurse, aber auch der Sport – mit eigener Fußballliga – machten den Alltag im Lager lebenswerter und waren ein Symbol für den Lebensmut im Wartesaal, der das Leben der jüdischen DPs kennzeichnete.
Auch das religiöse Leben und die Feiern jüdischer Feste trugen dazu bei, das Leben erträglicher werden zu lassen. Der Wiener Journalist Ernest Landau, der in Feldafing am Starnberger See befreit wurde und zunächst dort im DP-Lager lebte, berichtete 1946 von der ersten Purim-Feier der Nachkriegszeit auf Schloss Elmau, das als Erholungsheim für Überlebende eingerichtet worden war: „Bisher hatten die jüdischen DPs nur in Lagern gelebt. In Zimmern, in denen sie zu 20 und mehr Menschen hausen mussten. Sie schliefen in zwei- bis dreistöckigen Holzbetten, sie aßen an Holztischen ohne Tischtuch und selten bloß mit Messer und Gabel. […] 150 Menschen dürfen jeweils 14 Tage hindurch in Elmau verbringen. 150 junge Menschen kehren nach Ablauf dieser Zeit wieder ins Lager zurück. Sie erzählen von Elmau. Sie zehren von Elmau, als dem schönsten Erlebnis seit ihrer Befreiung.“ (Landau 2008: 236–251).
München wurde zum Zentrum der vielfältigen kulturellen Initiativen der Sche’erit Haplejta und zentraler Sitz der jüdischen DP-Presse, die unzählige Zeitungen verschiedenster politischer und kultureller Orientierung umfasste. Sie informierten über das DP-Leben, über Veranstaltungen, enthielten Suchanfragen nach Angehörigen, machten auf kulturelle und sportliche Ereignisse aufmerksam, enthielten aber auch Werbung für neugegründete Kleinunternehmen. Und im Mai 1946 wurde in München ein jüdisches Gymnasium eröffnet, das bis 1951 bestand (Wetzel 1987, 303ff.).
Hoffnung für die Zukunft: Die Kinder
In allen jüdischen DP-Lagern stand die Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt, ihrer Erziehung galt ein wesentlicher Teil des Engagements der Überlebenden und der jüdischen Hilfsorganisationen wie etwa des Joint oder in der britischen Zone der Jewish Relief Unit. Die ersten Lehrer:innen waren Mitglieder der Jewish Brigade, der Einheit innerhalb der britischen Armee, die als Freiwillige aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina im Zweiten Weltkrieg kämpften. Weitere kamen aus den Reihen der Überlebenden selbst; die neue Aufgabe half ihnen, wenn auch häufig nur kurzfristig, die eigenen Traumata und den Verlust von Angehörigen besser zu ertragen (Königseder/Wetzel 2004, 23).
Die Vertreter:innen der Sche’erit Haplejta bemühten sich besonders um die Waisenkinder. Sie hatten die NS-Verfolgung unter zum Teil prekären Verhältnissen versteckt in Klöstern, Waisenhäusern oder bei Privatpersonen überlebt und wurden in verschiedenen Kibbuzim und in zehn eigens dafür eingerichteten Kinderhäusern wie etwa in Bayrisch Gmain und Prien untergebracht (Wetzel 2003: 75–78; Tobias 2021). Das Erziehungsziel dieser Einrichtungen war die Vorbereitung auf eine Auswanderung nach Palästina, Hebräisch wurde zum gemeinsamen Idiom für Kinder mit verschiedensten Muttersprachen. Kindergärten und Schulen wurden gegründet, Berufsausbildungsstätten für Jugendliche geschaffen, aber auch Freizeit- und Sportangebote organisiert.
Das Ende des „Wartesaals“
Vorrangiges Ziel der überwiegenden Mehrheit der jüdischen DPs war es, den Wartesaal Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Dem standen aber zunächst hohe Hürden in Übersee, aber auch in Palästina entgegen – die Grenzen waren weitgehend geschlossen bzw. es gelang nur wenigen, illegal mit Hilfe jüdischer Untergrundorganisationen wie der „Brichah“ (Flucht) in Palästina einzureisen.
Für einige tausend jüdische Überlebende endete die Zeit im Lager, also eine Zeit in unpersönlicher Atmosphäre und ohne privaten Rückzugsraum, erst 1957, als das letzte jüdische DP-Lager Föhrenwald bei Wolfratshausen geschlossen wurde. Die Freude der deutschen Bewohner:innen aus der Region über die Schließung zeigte sich einmal mehr 1976, als die Lokalzeitung, der Isar-Loisachbote, noch 20 Jahre später feststellte, dass „aus dem berüchtigten und verwahrlosten Nachkriegslager Föhrenwald die saubere Wohnsiedlung Altwaldrams“ geworden war (zit. n. Königseder/Wetzel 2004, 172). Empathie für das Schicksal der gestrandeten Überlebenden fehlte. Antisemitische Haltungen waren in der Nachkriegszeit weit verbreitet und erhielten neue Nahrung durch Gerüchte über angeblich marodierende, auf Rache sinnende, den Schwarzmarkt dominierende jüdische Überlebende. Gerüchte über angebliche Plünderungsaktionen der DPs kursierten nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Fremdenfeindlichkeit und die Abwehr von Verantwortung gegenüber den Opfern der NS-Herrschaft mischten sich mit alten Vorurteilen und führten dazu, dass vor allem den jüdischen DPs eine überproportionale Kriminalitätsrate unterstellt wurde, die Untersuchungen der Militärbehörden zufolge keine reale Grundlage hatte (Wetzel 2020).
LITERATUR
Abzug, Robert H./Wetzel, Juliane: Die Befreiung, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2005, S. 313–328.
Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985.
Königseder, Angelika: Flucht nach Berlin. Jüdische Displaced Persons 1945–1948, Berlin 1998.
Königseder, Angelika/Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, akt. Aufl., Frankfurt a.M. 2004.
Landau, Ernest: Purim in Elmau – Um die jüdische Zukunft. Texte jüdischen Überlebens, in: Dachauer Hefte 24 (2008), S. 236–251.
Patt, Avinoam J./Berkowitz, Michael: „We are here“. New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany, Detroit 2010.
Tobias, Jim G.: Bayerisch Gmain und Prien. Jüdische Kinderlager im bayerischen Alpenvorland 1946–48, in: nurinst.org [Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V. – Nuremberg Institute for Holocaust Studies], 17.12.2021 [Website], URL: https://www.nurinst.org/bayerisch-gmain-und-prien-juedische-kinderlager-im-bayerischen-alpenvorland-1946-48/#more-947 [eingesehen am 10.03.2025].
Wetzel, Juliane: Jüdisches Leben in München 1945–1951. Durchgangsstation oder Wiederaufbau?, München 1987.
Wetzel, Juliane: Ziel: Erez Israel. Jüdische DP-Kinder als Hoffnungsträger, in: Urban, Susanne (Hrsg.): „Rettet die Kinder!“ Die Jugend-Aliyah 1933–2003. Einwanderung und Jugendarbeit in Israel, Frankfurt a.M. 2003, S. 75–78.
Wetzel, Juliane: Kontinuitäten: Antisemitismus und jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, in: Lernen aus der Geschichte 09/2020, 25.11.2020 [Website], URL: https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14953 [eingesehen am 07.03.2025].
- |
- Print article
- |
- 08/05/2025 - 09:45