Christoph Kreutzmüller ist Co-Leiter von „#LastSeen“. Er veröffentlichte u.a. (mit Julia Werner) „Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden Europas. Eine pädagogische Handreichung“ (Berlin 2012; Berlin und Bonn 2016). Für die neue Dauerausstellung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz hat er zudem eine „Partizipationsstation“ zur Analyse historischer Fotos entwickelt. Zum Bildungsteam von #LastSeen in der ersten Projektphase gehörten weiterhin Malte Grünkorn, Ina Glaremin, Birthe Pater, Maximillian Strnad, Franziska Thole und Aya Zarfati.

von Christoph Kreutzmüller

#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen

Zweihunderttausend Jüdinnen und Juden, Sinti:zze und Rom:nja wurden zwischen 1938 und 1945 von den Nationalsozialist:innen und ihren Helfern:innen aus dem Deutschen Reich (in den Grenzen von 1937) verschleppt und im Anschluss oftmals ermordet. Die Deportationen begannen auf Marktplätzen, in Gaststätten und auf Bahnhöfen – vor den Augen der Nachbar:innen. An vielen Orten wurde das Geschehen fotografiert. #LastSeen hat sich zum Ziel gesetzt, Bilder der Deportationen aus dem Deutschen Reich in einem Bildatlas zu sammeln und zu erschließen.

Die gerade abgelaufene zweite Projektphase wird von der Alfred Landecker Foundation gefördert. In dieser Phase werden wir auch Fotos der Krankenmorde, sowie Bilder aus dem sogenannten Sudetengebiet und aus Österreich in den Bildatlas aufnehmen. „Last Seen“ war von Oktober 2021 bis März 2023 ein Projekt der Bildungsagenda NS-Unrecht der Stiftung Erinnern, Verantwortung und Zukunft (EVZ).

Partner der Entwicklung des Bildungsangebots waren die Arolsen Archives, die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, das Kulturreferat der Landeshauptstadt München (Abteilung Public History) sowie die Digitalagentur &why in München. 

Einleitung

Der in der Forschung viel beschworene „pictorial turn“ hat längst Klassen- und Seminarräume erreicht. Im Gegensatz zu schriftlichen Quellen sprechen uns fotografische auf den ersten Blick an. Sie überspringen Sprachbarrieren und lösen eine unmittelbare emotionale Reaktion aus. Auch wenn historische Aufnahmen immer nur einen begrenzten Ausschnitt des Geschehens zeigen, kommt ihnen in der historisch-politischen Bildung eine zentrale Rolle zu. Ihre Bedeutung wird in Zukunft noch steigen – weil die letzten Zeitzeug:innen verstummen und weil sich unsere Seh- und Lesegewohnheiten ändern. In diesem Sinne ist die Analyse – das bedachte Lesen – von Fotos ein Beitrag zur Entwicklung der Medienkompetenz von Lernenden und Lehrenden. In unserer bildüberfluteten Welt sind Fotos ein zentrales Informationsmedium; wir müssen lernen, besser mit der Flut und den Bildern umzugehen.

Dass Fotos als Quellen kontextualisiert werden müssen, versteht sich von selbst. Dabei setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass Fotoserien und -alben einen guten Ansatz bieten, da sie bereits Aspekte des Kontexts in sich tragen. In der Serie erschließt sich etwa die Intention des Fotografierenden oft klarer als in einem Einzelbild. Auch bei „#LastSeen“ haben wir mit Fotoserien gearbeitet. Diese Bilder der Deportationen eignen sich sowohl zum Einstieg als auch für ein vertieftes Modul zur Geschichte der NS-Verbrechen – im Schulunterricht wie auch in außerschulischer Bildung. Die verwendeten Aufnahmen bilden meist zentrale Aspekte eines arbeitsteilig organisierten Prozesses mit verschiedenen Täter:innen ab, der vor aller Augen an wiedererkennbaren Orten stattfand, zuweilen sogar für die Öffentlichkeit inszeniert wurde. Die von der Deportation Betroffenen waren keineswegs willenlose „Opfer“. Auch das ist auf vielen Fotos zu erkennen. Wenngleich die Fotos wenig physische Gewalt abbilden, offenbaren sie ein erhebliches Maß an struktureller Gewalt. Hierzu gehört, dass sie in der Regel gegen den Willen der Abgebildeten aufgenommen wurden, was eigentlich gegen ihren Einsatz in der historisch-politischen Bildung spricht. Dafür spricht das klar definierte Erkenntnisinteresse, sowie der Umstand, dass durch die Analyse der Fotos vielen Betroffenen eine Identität zurückgegeben werden kann. Wir schauen uns die Fotos nicht aus voyeuristischen Motiven an, sondern um von ihnen zu lernen. Unsere Recherchen im Rahmen des Projekts lassen zudem immer deutlicher zu Tage treten, dass viele Fotoserien in der direkten Nachkriegszeit von den Überlebenden oder ihren Familien gesichert worden sind, weil sie ihren Wert früh erkannt hatten. Oft übergaben die Familien dann die Fotos in den 1970/80-er Jahren an städtische Archive, damit sie gezeigt und ausgewertet werden konnten.

Trotz aller berechtigten und zu thematisierenden Zweifel, ob und wie diese Bilder gezeigt werden sollten, scheinen uns die Fotos dennoch für den Einsatz im Unterricht geeignet. Dabei ist die Frage, ob Fotos, die gegen den Willen der Abgebildeten aufgenommen wurden, gezeigt werden dürfen – angesichts gegenwärtiger Omnipräsenz der Handyfotografie – sicher ein Punkt, der im Unterricht angesprochen werden kann.

Spielanordnung

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen haben wir zusammen mit Schüler:innen ein niedrigschwelliges immersives Bildungsangebot, ein Entdeckungsspiel, entwickelt: ein den Nutzer*innen zugewandtes Anschauungsobjekt und intuitiv zu nutzender Werkzeugkasten zur Analyse der Fotos von Deportationen.

Zurzeit werden viele Spiele zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen herausgebracht. Nun muss das, was en vogue ist, nicht immer gut und richtig sein. Doch zeichnet sich ab, dass die jetzige Entwicklung Chancen bietet, neue, kreative Wege zu finden, sich mit historischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, welche Sachverhalte den Spielenden (und den Spielentwickler:innen) zuzumuten sind. Dürfen wir also beispielsweise die Nutzer:innen dazu bringen, in die Rolle eines Fotografen/einer Fotografin zu schlüpfen, der/die festlegen soll, wie er/sie eine Deportation ins Bild setzen will? Oder gar einer Familie, die entscheiden muss, was sie angesichts eines „Gestellungsbefehls“ tun kann? Dies schien uns – auch im Hinblick auf den Beutelsbacher Konsens – unangemessen. Deshalb haben wir beschlossen, von der Jetzt-Zeit auszugehen: Die Spielenden nehmen die Rolle einer Person ein, die in einem Blog über die Deportationen schreibt und dafür recherchiert.

Spielort ist ein Dachboden – ein Ort, den es in vielen Häusern gibt, den jede:r kennt. Verbunden damit ist auch die Hoffnung, dass zukünftige Dachbodenfunde bislang unbekannte Bilder von Deportationen zu Tage befördern. Im virtuellen Raum des staubigen Bodens, der als Abstellkammer dient und in dem ein ausrangierter PC auf das Heute verweist, werden Fotos und zusätzliche Quellen gesucht und eigenständig die Geschichte um die Bildserie recherchiert: Bildbetrachtung und Kontextrecherche sind in der Spielhandlung so eng miteinander verzahnt.

Screenshot aus dem Entdeckungsspiel: Der Dachboden, auf dem die Bilder und Dokumente verborgen sind. © &why/lastseen

Deportation aus Eisenach

In Abstimmung mit Schüler:innen haben wir für die Pilotfassung eine Serie von Fotografien aus Eisenach ausgewählt. Die 21 Fotos wurden am Samstag, den 9. Mai 1942, im Auftrag der Stadt höchstwahrscheinlich von Theodor Harder aufgenommen, der eng mit der Stadtverwaltung zusammenarbeitete. Die Fotos entstammen einer 1935 begonnenen städtischen Bildchronik, die im Archiv der Wartburgstadt überliefert ist. Routiniert aufgenommen zeigen sie, wie sich die 58 Jüdinnen und Juden aus der Stadt vor der Sammelstelle in der Goethestraße aufstellen müssen. Nur ein Name auf den Gepäckstücken ist deutlich zu lesen. Es ist die Tasche der „Krankenschwester Magda Katz“, die ihr Mann Salomon trägt. Die Menschen ziehen, das schwere Gepäck geschultert oder auf Bollerwagen geladen, in drei Kolonnen durch die Schillerstraße zum Hauptbahnhof. Ganz vorn in der Mitte geht die Familie Spangenthal. Die dreizehnjährige Marianne Spangenthal ist an ihren dicken Zöpfen auf vielen Fotos gut zu erkennen, neben ihr gehen ihre Eltern Berthold und Erna. Ihrem Bruder Heinz war vorher die Emigration in die Schweiz gelungen. Er wird später auf einem der Fotos seine Mutter erkennen.

Je näher die Menschen auf dem Zwangsmarsch dem Bahnhof kommen, desto dichter stehen die Nachbar:innen. Am Bahnhofsplatz bilden sie ein Spalier. Viele Menschen beobachten das Geschehen­ – offen oder halb verborgen – am Fenster, am Bahnhof konnte ein zuschauender Zahnarzt relativ sicher identifiziert werden. Die nächsten Fotos zeigen, wie sich die verfolgten Eisenacher:innen die Treppen zum Bahnsteig 3 hochmühen und dann in die letzten Wagen des fahrplanmäßigen Zugs nach Weimar einsteigen. Auf dem Bahnsteig stehen nicht nur unbetroffene Fahrgäste. Hier kommen auch Bahnbeamte und der Kriminalpolizist Theodor Meyer in den Blick, der die Deportation organisierte.

Mit dem Einstieg in die Nicht-Raucher-Wagen der dritten Klasse bricht die Fotoserie ab. Auftragsgemäß wollte Harder die „Exmittierung der Juden“, wie es der Titel der Fotoserie nennt, zeigen. Die Ankunft der Verschleppten in Weimar, ihre brutale Durchsuchung in der ehemaligen Viehhalle und der quälende Weitertransport nach Izbica interessierten ihn ebenso wenig wie das, was dort geschah. Die Spur der Eisenacher:innen verliert sich in und um dieses Getto in der Nähe von Lublin. Wir wissen nur, dass niemand von ihnen überlebte, jedoch nicht, wo die Menschen ermordet wurden.

Spielentscheidungen

Der Test des Spiels ergab, dass die 21 Fotos der Serie, die sämtlich in die Pilotfassung eingegangen waren, die Spielmechanik unnötig kompliziert gemacht hätten. Wir trafen eine kuratorische Auswahl und wählten zwölf der Aufnahmen aus. Die Auswahl wurde durch den Umstand erleichtert, dass Harder die Angewohnheit hatte, jedes Motiv jeweils zweimal abzulichten, so dass es möglich war, die Bildanzahl zu reduzieren, ohne einzelne Aspekte auszuklammern.

Screenshot aus dem Entdeckungsspiel: Die Nutzer*innen markieren im Rahmen eines Spiels im Spiel, wer NICHT deportiert wurde. © &why/lastseen

Besonderes Augenmerk legten wir auf ein Foto der Serie, das zeigt, wie sich die Deportierten am Haupteingang des Bahnhofs mit „normalen“ Passant:innen mischen. Es ist ein Foto, dessen Inhalt sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Es verlangt, den Blick zu fokussieren, mit der Lupe in das Bildgeschehen hineinzuzoomen und über die Situation, die Beziehungen der verschiedenen fotografierten Personen zueinander und über den Akt des Fotografierens nachzudenken. Wie jedoch können die Nutzer:innen in einem Spiel in das „Wimmelbild“ hineingezogen werden? Wir haben in Workshops die Idee entwickelt, die Aufgabe zu stellen, diejenigen zu erkennen, die nicht deportiert wurden, – und sie zu markieren. Dies haben wir zunächst auf DIN A3-Ausdrucken des leicht bearbeiteten, weichgezeichneten Fotos probiert und später als „Minispiel“ in das Spiel integriert, wie einen virtuellen Perspektivwechsel, der auf den Fotografen in den Blick nimmt.

Die ins Spiel integrierten Tiefenrecherchen basieren teils auf den Vorarbeiten sowie der Unterstützung der Eisenacher Stolperstein-Initiative. Das Stadtarchiv in Eisenach unterstützte uns ebenfalls in großartiger Weise. So konnten wir einige der Deportierten sicher identifizieren und ihr Leben rekonstruieren – und Fotos sowie andere Lebenszeugnisse als Lösungshinweise in das Spiel integrieren. Einfache Hilfsmittel, wie Adressbücher, halfen uns beispielsweise den o.g. Zahnarzt zu identifizieren. Zeitungen und die Chronik der Stadt ergänzten das Bild um den Aspekt der öffentlichen Wahrnehmung. Wichtig war uns zudem, auf den Fotografen und die Täter:innen einzugehen. Die Berichte der Kriminalpolizei an die Gestapo waren hier eine zentrale Quelle. Da die Quellen ungekürzt wiedergegeben werden sollen, hat die Bildagentur &why für das Spiel eine Anwendung entwickelt, in der die zentralen Passagen auf Anforderung hervorgehoben werden. Ebenso können handschriftliche Notizen auch in Druckschrift angezeigt werden.

Screenshot aus dem Entdeckungsspiel: Das Lesen der Dokumente wird durch Highlights und Umschriften vereinfacht. © &why/lastseen

Spielverlauf

Die Aufgabe der Nutzer:innen ist es, die Fotos und zusätzliche Quellen auf dem Dachboden zu entdecken. Sie tragen ihre Entdeckungen in Stichworten in ein virtuelles Notizbuch ein. Decken sich die Stichwörter mit einem hinterlegten umfangreichen Schlagwortregister, wird hieraus ein personalisierter Blogbeitrag generiert, der als PDF ausgedruckt werden kann. So können die Nutzer:innen ihre Ergebnisse miteinander vergleichen.

Die Resonanz auf das im März 2023 in der Beta-Version gelaunchte Spiel ist durchweg sehr positiv. Eine Berliner Schülerin schrieb uns: „Ein ergreifendes Spiel. Durch viele unterschiedliche Funktionen erhält man Informationen über Menschen, die deportiert wurden. Der Blog ist eine super Möglichkeit, sein Wissen zu vertiefen und Bilder zu analysieren. Und dies auf eine Art, die mega viel Spaß bereitet. Man kann lange daran rätseln, aber jederzeit auch abbrechen.“

Das Spiel wird noch weiterentwickelt und Erfahrungen aus weiteren Tests sowie Verbesserungsvorschläge eingearbeitet. Nicht richtig zufrieden sind wir mit dem Umstand, dass im Blog nur ganze Abschnitte freigeschaltet werden können und wir den Blog quasi vorgeschrieben haben. Wie wir hier Freitextoptionen einbauen können – oder doch wenigstens für die Überschrift des Blogartikels eine Auswahl bereitstellen – überlegen wir noch. Zur inhaltlichen Vorbereitung von Unterrichtenden haben wir umfangreiche Hilfsangebote bereitgestellt. Diese werden noch um eine Handreichung der Dokumente ergänzt.

Sehr bald kommt ein weiteres Fallbeispiel mit einer neuen Aufgabenstellung hinzu, das die Kolleg:innen von Public History im Kulturreferat in München gerade mit Schüler:innen entwickelt haben. Hier werden die Ergebnisse der Recherche in einem Videoblog präsentiert. In der gerade begonnenen zweiten Projektphase werden wir das Spiel auch inhaltlich erweitern.

Wir hoffen, mit dem Suchspiel Anreize oder Ansatzpunkte für eigene Recherchen, Fotoarbeiten oder andere Formen der künstlerischen Auseinandersetzung zu schaffen. In diesem Sinne stellt der Bildatlas eine ideale Ergänzung dar. Unterrichtende finden hier „sichere“ Fotos, deren Provenienz geklärt ist, die kontextualisiert wie tiefenerschlossen und deshalb im Unterricht gut einzusetzen sind. Zusätzlich zum Spiel haben wir einen analogen Workshop entwickelt, in dem der Entstehungskontext zusammen mit den Schüler:innen erarbeitet und dann bestimmte Fotos en détail analysiert werden. Diese Workshops werden von unseren Kooperationspartnern, insbesondere den Arolsen Archives sowie der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, angeboten. Weitere Hinweise finden sich auf deren Websites.

 

Literatur

Bildungswerkg Stainslaw Hantz (Hrsg.): Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020.

Brunner, Reinhold: Die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Menschen Eisenachs 1938 bis 1942, Eisenach 2002.

Bruttmann, Tal/Hördler, Stefan/Kreutzmüller, Christoph: Die Fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019.

Liesenberg, Carsten/Stein, Harry (Hrsg.): Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942, Erfurt 2012.

 

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