Dr. Christian Johann ist Historiker und politischer Bildner. Als Direktor der Europäischen Akademie Berlin leitete er das Projekt "Natur? Politisch."

von Christian Johann

Was wäre passiert, wenn Greta Thunberg nicht am 20. August 2018 in Stock­holm die Schule für bes­seren Klima- und Um­weltschutz geschwänzt hätte, sondern am 17. August 1984 in Bitter­feld? Diese Frage spannt den Rahmen für Natur? Politisch., das als Projekt der politisch-historischen Bildung mit einem gleichnami­gen Serious Game neue Zugänge zur Geschichte der DDR aufzeigt. Das Thema ist der persönliche Einsatz für die Umwelt. Ausgangspunkt des Projektträgers Europäische Akademie Berlin (EAB) ist der Wunsch, zum einen die Erin­nerung an das Unrecht des SED-Staats wachzuhalten. Zum anderen wollen wir Interesse für Widerstand und Eigenini­tiative für Umweltschutz wecken, die zu seinem Ende bei­trugen.

Natur? Politisch. © Europäische Akademie Berlin

Dazu entschieden wir uns für die kollaborative Erarbei­tung eines Serious Games. In diesem erfahren junge Men­schen, wie sich Jugendliche in der DDR auch unter großen persönlichen Gefahren für Umweltschutz einsetzten. Den Rahmen des Spiels Natur? Politisch. liefert die Geschich­te einer Gruppe Jugendlicher, die in Bitterfeld auf die un­sachgemäße wie illegale Entsorgung verdächtiger Fässer stößt und diese dokumentiert. Mit ihrem Bericht, der die Vertuschung dieser Entsorgung festhält, machen sie sich auf den Weg zur Umweltbibliothek Berlin, um die Öffent­lichkeit zu informieren. Doch ein Mitglied der Gruppe ver­rät den Plan der Stasi, die die Gruppe daraufhin aushebt. Das Spiel überlässt den Spielerinnen und Spielern an meh­reren Wegmarken Entscheidungen. Es gilt zudem, Antwor­ten auf Fragen der Figuren, denen sie im Verlauf der Hand­lung begegnen, zu finden, und stellt sie vor Rätsel, die die Handlung vorantreiben. So wird Geschichte interaktiv, sie wird zum Leben erweckt und ermöglicht Identifikation.

Mehr als ein Dutzend Beteiligte (u.a. Zeit­zeuginnen und Zeitzeugen, Spieleent­wicklerinnen und -entwickler, freiwillige Teilnehmende, Stiftungsvertreterinnen und -vertreter und politische Bild­nerinnen und Bildner) haben mit Natur? Politisch. ein Seri­ous Game zur Geschichte der Umweltbibliothek Berlin ge­schaffen, einem wichtigen Treffpunkt der oppositionellen Umweltbewegung in den 1980er Jahren. Das Spiel vermit­telt Menschen zwischen 14 und 22 Jahren Einblicke in den Alltag einer sozialistischen Diktatur. Dabei wird deutlich, welch hohes Gut demokratische Grundrechte wie Demon­strations- und Informationsfreiheit sind. Der spielerische Zugang zu einem wichtigen Gegenwartsthema und einer Facette gesellschaftlichen Engagements im Unrechtsstaat weckt Neugier.

KONTEXT: UMWELT UND UMWELTSCHUTZ IN DER DDR

Tote Flüsse und Seen, sterbende Wälder und vom Braun­kohletagebau verwüstete Landschaften – das ökologische Erbe der DDR war desaströs. Als Erklärung für den rück­sichtslosen Raubbau an der Natur wird noch heute häufig angeführt, die DDR-Elite habe anderen Zielen, etwa einer Steigerung der Produktion, grundsätzlich Priorität vor Umweltbelangen eingeräumt. Doch ganz stimmig ist diese Erklärung nicht, wie zwei Jahreszahlen zeigen: Schon 1968 wurde Umweltschutz als Staatsziel in der DDR-Verfassung verankert. Und 1972 richtete Ost-Berlin ein Ministerium für Um­weltschutz und Wasserwirtschaft ein – im­merhin 14 Jahre vor der Bundesrepublik. Wie ist das zu erklären? Handelte es sich um eine vergleichsweise fortschrittliche Politik oder um Vertuschungsmanöver? Welche Möglichkeiten hatten Bür­gerinnen und Bürger, die Lösung von Umweltproblemen zu beeinflussen – und wie ging der Staat mit Kritik und Wi­derstand um?

Diese Fragen bilden den geschichtswissenschaftlichen Hin­tergrund für Natur? Politisch. Auch wenn manche Fragen nur aufgeworfen und im Spiel nicht beantwortet werden, wird für die Spielerinnen und Spielern deutlich, dass Vertu­schung und Behinderung von Aufklärung ein größeres An­liegen der SED war als eine fortschrittliche Umweltpolitik. Diese Botschaft des Spiels entspricht nicht nur der anek­dotischen Schilderung der eingebundenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sondern basiert auch auf dem aktuellen Stand der Forschung.

Dass die DDR-Umweltpolitik trotz einiger Bemühungen als gescheitert betrachtet werden muss, hatte vor allem öko­nomische Gründe. Die anhaltende Wirtschaftskrise, in der sich alle sozialistischen Staaten wiederfanden, verunmög­lichte die Finanzierung vieler Maßnahmen ebenso wie die strukturellen Defizite einer Planwirtschaft, die die Nachfra­ge nach den notwendigen technischen Anlagen nicht be­friedigen konnte. Die Lösung bestand für die SED aus der Verschleierung von Missständen.

Viele Bürgerinnen und Bürger reagierten auf die Untä­tigkeit des Staates und die rapide Verschlechterung von Umweltdaten mit verstärktem Widerstand: Sie wollten unzureichende oder komplett fehlende Umweltauflagen, massive Industrialisierung, marode Industrieanlagen und die Zerstörung der Landschaft durch Braunkohleabbau nicht mehr hinnehmen und organisierten Protestaktionen. In Kirchen wurden Umweltbibliotheken gegründet und Umweltblätter verfasst. Junge Umweltschützerinnen und -schützer veranstalteten Fahrraddemos, Baumpflanzaktio­nen und Umweltseminare, Anwohnerinnen und Anwohner nahmen an Spendensammelaktionen für Umweltzwecke teil und Engagierten gelangen heimliche Filmaufnahmen, die dem Ort Bitterfeld zu trauriger Berühmtheit verhalfen.

Der Protest gegen das umweltpolitische Versagen des Staa­tes war nicht nur kreativ. Er hatte als Inspirationsquelle für die sich formierende Oppositionsbewegung in der DDR auch Anteil an der Überwindung des Systems durch enga­gierte Einzelne, die große Risiken auf sich nahmen. Solche Wechselwirkungen zwischen staatlichen und gesellschaft­lichen Akteurinnen und Akteuren nachzuvollziehen, zudem zu verdeutlichen, welche Folgen das Herrschaftssystem der DDR für die Umwelt einerseits und für den Aktivismus engagierter Bürger und Bürgerinnen andererseits hatte, ist das Ziel des Serious Game Natur? Politisch.

NEUGIER WECKEN MIT INTERESSANTEN THEMEN UND METHODEN

Selbst wenn Themen wie Politik, Alltag und Zwänge in der DDR in der Schule behandelt werden, bleiben Lücken, die nicht nur inhaltlicher Art sind. Natur? Politisch. widmet sich der Lücke der persönlichen Identifikation. Es fördert die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur durch me­thodische Innovation und thematische Zielgruppenorien­tierung.

Doch wieso die Umweltbibliothek? Warum das Thema Umweltschutz? Klimawandel und Umweltverschmutzung sind nicht zuletzt dank zahlreicher Initia­tiven junger Menschen wie Fridays for Fu­ture massiv ins gesellschaftliche Bewusst­sein gerückt. Klimastreiks mobilisieren Jugendliche, die für ihre Forderungen auf die Straße gehen. War das in der sozialisti­schen Diktatur der DDR auch möglich? Wie können wir heute für grundlegende Rechte einstehen? In Natur? Politisch. werden diese Fragestellungen verarbeitet. Der Ansatz der Gamification birgt die Chance, neue, auch schwer zu erreichende Ziel­gruppen zu erschließen, die Motivation zum Lernen und zum eigenen Engagement, einem Kernanliegen der politi­schen Bildung, zu steigern und Sozialkompetenzen zu er­höhen.

Vielversprechend ist der Ansatz außerdem, da Videospie­le eine Reichweite erzielen, die in manchen Altersgruppen klassische Medien wie Bücher und Filme längst überholt hat. Und weil die Beschäftigung mit dem Medium Game in besonderem Maße durch Interaktion – und nicht allein durch Konsum – geprägt ist, eignet sich ein Serious Game wie kaum ein anderer Ansatz, um bei jungen Menschen In­teresse für ein bestimmtes Thema zu wecken.

Projektgestaltung entlang der Interessen der Zielgruppe

Um das Spiel auf die Bedürfnisse der Zielgruppe auszurich­ten und deren eigene Expertise ernst zu nehmen, flankierte ein Partizipationsprozess die Spielentwicklung. Nachdem eine Kerngruppe von Studierenden unterschiedlicher Dis­ziplinen gefunden und mit dem Thema vertraut gemacht worden war, fungierte diese Gruppe als fachlicher Beirat, als Testerinnen und Tester des Spiels und als Multiplikato­rinnen und Multiplikatoren der Ergebnisse. Zusätzlich er­fuhren sie im direkten Kontakt mit der Spieleentwicklerin, dem Grafiker und dem Sounddesigner mehr über Konzep­tion, Erarbeitung und Bewerbung eines Serious Games. In gemeinsamen und individuellen Workshops und Arbeits­phasen befassten sie sich zum einen mit dem DDR-Un­rechtsstaat, konkret mit dessen Umweltpolitik, und zum anderen mit der Umweltpolitik „von unten“ (durch Aktivis­tinnen und Aktivisten), um anschließend gemeinsam Rah­mendaten für die Spielentwicklung abzustecken. Konkret beteiligten sie sich unter anderem an der Ausarbeitung von Charakteren und deren Biografien, der Auswahl und Erarbeitung geeigneter Ausgangslagen, Auf­gabenstellungen und Settings sowie bei der Definition von Entscheidungsoptionen innerhalb der einzelnen Spielperspektiven. Auf diese Weise erlangten sie nicht nur ein grundlegendes Verständnis für die Zwänge, die Unrechtserfahrungen und die politische Durchdrin­gung des Alltags der Menschen in der DDR. Sie erlebten durch ihre direkte Einbindung in die Spielgestaltung darü­ber hinaus auch Selbstwirksamkeit, die sie ermutigen soll, für ihre Werte und Wünsche einzustehen und sich in Zu­kunft zu engagieren.

Zusätzlich zum Serious Game entstand ein didaktischer Leitfaden, inklusive weiterführender Zusatzmaterialien, der aufzeigt, wie das Spiel in den Schulunterricht, in eine Jugendbegegnung oder auf einer digitalen Konferenz ein­gebunden werden kann. Eine Lehrkräftefortbildung, die Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (die auch im Spiel auftauchen), Besuche in der ehemaligen Stasi-Zent­rale und an der Gedenkstätte Berliner Mauer und den Test der Materialien beinhaltete, bildete den Abschluss des Pro­jekts Natur? Politisch. Die Fortbildung wird auch in Zukunft an der EAB durchgeführt werden. Sie richtet sich an alle Lehrenden der formalen und non-formalen Bildung, die einen technisch wie thematisch innovativen Zugang zur Geschichte der DDR suchen. Informationen sowie die Be­gleitmaterialien finden Sie auf unserer Homepage.

Die Anlage und der große Umfang des Projekts in seiner kooperativen Ausrichtung bedeuteten einen hohen orga­nisatorischen Aufwand. Doch so konnte das Projektteam sicherstellen, dass Handlung, Hintergründe und didakti­sches Begleitmaterial des Serious Games nicht nur theore­tisch gut konzipiert, sondern auch praktisch getestet wur­den. Dass zudem – selbst bei der Erstellung eines digitalen Produkts – der persönlichen Begegnung ein großer Stel­lenwert zukam, macht das Projekt insgesamt zu einem ge­lungenen Beispiel für die politisch-historische Bildung.

Natur? Politisch. wird zeitnah auf unserer Homepage auf­findbar sein.

 

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