Dr. Katharina Trittel ist Historikerin, leitende Redakteurin des Magazins „Lernen aus der Geschichte“ und verantwortlich für das zugehörige Webportal.

von Katharina Trittel

Anne Rabe. Die Möglichkeit von Glück, Stuttgart 2023.

„Die Jugend der 2000er war ‚computersüchtig‘, ‚internetsüchtig‘, ‚handysüchtig‘. Sie war undiszipliniert und nicht leistungsbereit. Schlecht erzogen und verwöhnt. Wie jede Generation zuvor. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Jugend der 2000er in Ostdeutschland war dagegen nicht verloren, nicht alleingelassen, nicht belogen und betrogen. Sie hatte es besser als ihre Eltern, oder nicht? Sie konnte die Welt bereisen, oder nicht? Konnte studieren, was werden, kein militärischer Drill mehr, keine Stasi, keine Westpakete.“ (264)

Oder nicht!? Diese rhetorische Frage aus westdeutscher Erwachsenenperspektive, die bereits alle Vorurteile, Wertungen, impliziten Erwartungen und generationellen Friktionen enthält, zieht sich durch den Debütroman von Anne Rabe.

Stine, die Protagonistin des Buches, ebenso wie Anne Rabe in der DDR geboren und in der Nachwendezeit im Osten aufgewachsen – ein Kind der Baseballschlägerjahre –, wird permanent mit dieser Frage konfrontiert, macht sie zu ihrer eigenen Frage, stellt sie sich mit quälender Dringlichkeit und voller Zweifel daran, wie sie über sich selbst und ihre Familie urteilen kann und darf.

„Die Zeit, in die ich geboren wurde, ist das, was man heute eine historische Zäsur nennt. Alljährlich im Herbst laufen über die Bildschirme die glücklichen Bilder des Mauerfalls. Die Menschen, die sich in die Arme fallen und kaum fassen können, dass das, was da gerade passiert, wirklich geschieht. Auf ihren Gesichtern Erleichterung und die Möglichkeit von Glück. Ich denke jedes Mal, jetzt ist der Krieg vorbei“ (18).

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. © Piper Verlag

Rabe erzählt in ihrem Debütroman von der „Möglichkeit von Glück“ und von Stines Suche nach diesem Glück – beziehungsweise seiner Abwesenheit. Sie spricht in einem klaren, berührenden, aber unsentimentalen Tonfall davon, welche vielschichtigen Erfahrungen Stine in ihrem Aufwachsen in einer zusammenbrechenden Gesellschaft macht; in einer Gesellschaft, die umgewälzt, zum Teil entwurzelt erscheint, und zugleich durch tief verwurzelte Kontinuitäten geprägt ist. „Das neue Land schmeckte anders, aber die Regeln, denen wir uns unterzuordnen hatten, waren noch dieselben“ (28).

Stine macht sich ihre Suche nicht leicht. Neben der individuellen politischen Schuld, die sie in der eigenen Familie erahnt, spürt sie auch eine generationelle Schuld, obwohl sie als Nachgeborene immer wieder – sehr zu ihrem Leidwesen – einem eigenen Urteil versucht auszuweichen. Doch sie spürt: „Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?“ (110)

Rabe macht in ihrem Roman mit feinem Gespür eine Jugend erlebbar, die zwar dezidiert eine ostdeutsche Jugend ist und deshalb auch die Frage nach einer ostdeutschen Identität verhandelt, aber auch – und vielleicht sogar in erster Linie – familiäre Auseinandersetzungen beschreibt: das Schweigen, die für Stine omnipräsente Vergangenheit ihrer Familie, ihre Rolle in der nationalsozialistischen Diktatur ebenso wie die in der DDR. Aus einer Innenschau heraus beschreibt sie anhand dieser Aspekte die Grundlage, auf der Fragen, die Rabe am Herzen liegen („Warum der Osten anders tickt, anders wählt, rechter ist und gewalttätiger“, (20)) zu beantworten sind.

„Die Geschichte ist mir so nah, ich komme nicht von ihr los. Ich suche nach Bildern aus der Zeit, versuche zu verstehen, wie das war. Warum fasst es mich so an?“ (19) Diese Frage ist es, die Stine umtreibt. Sie möchte verstehen, was die Vergangenheit mit ihr zu tun hat; welchen Einfluss sie darauf hatte, dass sie geworden ist, wie sie ist. Dass sie von ihrer Herkunft nicht losgelassen wird und dass diese Herkunft mehr ist als die Abstammung von einzelnen Menschen. „Meine Kindheit bleibt ein dunkler Traum, aus dem ich nicht aufwachen kann“ (77).

Schicht für Schicht wird Stine immer mehr als Kind der Baseballschlägerjahre erkennbar; sie legt frei, wie brutalisiert ihr Umfeld und die Gesellschaft waren, in der sie aufwuchs. Für sie als Kind einer „elternlosen Generation“ oder „Generation der Unberatenen“, war Gewalt omnipräsent, in der Familie, der Erziehung, der Gesellschaft: Nach einem Amoklauf 2002 in Erfurt, verübt von jemandem, der zu viele Ballerspiele gesehen hat, wie die Erwachsenen glaubten oder glauben machen wollten (s. Eingangszitat), stellt Stine erschrocken fest: „Alle wussten einen, der einen Grund hatte zu schießen? Das Unglück, das vom Himmel fiel, passte so perfekt in die Welt, in der ich lebte. Aber ich wusste nicht, wieso. Und es fiel uns gar nicht schwer zu schweigen, wenn Erwachsene es für angemessen hielten“ (271).

Und Stine versteht: Ihre (Gewalt)Geschichte ist unweigerlich mit der ihres Großvaters verschränkt. Der Großvater, der vor Stalingrad kämpfte, dessen Stasi-Akte nach der Wende auf einmal verschwunden ist, dessen Geschichte Stine in einer akribischen Archivrecherche beginnt zu rekonstruieren. Der Vater ihrer Mutter, die ungehemmt Gewalt gegen Stine auslebt. Den sie liebt, aber von dem sie zunehmend versteht, dass er überzeugter Teil der gewaltvollen Diktatur gewesen ist.

Fazit: Dass die „Möglichkeit von Glück“ gleichzeitig gesellschaftlich determiniert und eine ganz individuelle Frage ist und wie eng diese beiden Aspekte im Leben einer in Ostdeutschland Aufwachsenden miteinander verwoben sind, beschreibt Rabes Buch eindrücklich. Es zeigt auf unterschiedlichen Ebenen, was es bedeutet, eine „Zeitenwende“ zu erleben, die es ermöglichen soll, nach vorne zu schauen, was jedoch ohne den Blick zurück für Stine unmöglich ist. Gleichzeitig markiert der Titel die ungeheure Last, die die historische Konstellation bedeuten konnte. „Manchmal drohe ich zu verschwinden. Hinter den Geschichten der anderen, hinter den Dokumenten, hinter den Büchern, die sich wie eine Mauer auftürmen“ (153). Denn: „Die Möglichkeit von Glück“ führt den Leser*innen vor Augen: „Das Unglück, das vom Himmel fiel, passte so perfekt in die Welt, in der ich lebte. Aber ich wusste nicht, wieso.“

 

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