„Nazi-Scheiße. Wessi-Scheiße. Ossi-Scheiße.“
von Katharina Trittel
Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, Köln 2010 und Nochmal Deutschboden. Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz, Köln 2020.
„Er […] kam dem Reporter nun ganz nahe: ‚Weißt du, Moritz. Das mit dem Gemeinschaftsgefühl, das kriegst du aus uns Ossis auch nicht mehr heraus. Das bleibt. Das steckt bei uns in den Genen. […] ‚Ich sage immer: Setz acht Wessis an einen Tisch, da zahlt jeder seine eigene Rechnung. Setz acht Ossis an einen Tisch, da zahlt einer alles, und beim nächsten Mal ist der Nächste dran.‘ […] Ich ahnte, dass Heiko recht hatte. Ich konnte mir die beiden Tische vorstellen, den im Westen, den im Osten, und ich sah förmlich vor mir, wie die Männer am West-Tisch nach ihren Portemonnaies griffen, die in ihren Gesäßtaschen steckten, während am Ost-Tisch ein Mann die Hand hob und rief: Komm, ich mach das heute. Und während ich fand, dass Heiko recht hatte, und ich mich schon gut fühlen wollte bei dem Gedanken, dass Heiko recht hatte, fühlte ich mich plötzlich provoziert […]. Ich fühlte mich als Westler von einem Ostler zur Verteidigung meiner West-Ehre herausgefordert“ (147).
Moritz von Uslar bleibt Geschmackssache. Seine popliterarische Erzählweise scheint in die Jahre gekommen zu sein, ebenso wie seine an den New Journalism angelehnte Methode, derer er sich bei „Deutschboden“ und „Nochmal Deutschboden“ bedient.
Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung. © KiWi Verlag
Gleich zweimal hat der Journalist und Autor im Abstand von zehn Jahren den als „Oberhavel“ verfremdeten Ort Zehdenick, in dem er jeweils mehrere Monate lebte, zum Gegenstand einer, wie er selbst sagt, „teilnehmenden Beobachtung“ gemacht. Herausgekommen sind eigentlich keine Bücher über die (ehemalige) DDR, sondern eine Milieustudie und schräge Hommage an die Provinz, die hier im Osten liegt. Denn die Theke aus beigem Pressholz, an der von Uslar seinen Protagonisten bei Unmengen Bier näherkommt, „war der letzte für jeden sichtbare Hinweis darauf, dass die Gaststätte Schröder ein Lokal war, das auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stand. Und selbst diese Theke hätte genauso gut in einer Stadt im Ruhrgebiet, in dem sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel getan hatte, stehen können: in Essen, Gelsenkirchen“ (150).
Ob „Deutschboden“, diese „literarische Betrachtung deutscher Befindlichkeiten“ eines, wie die Süddeutsche Zeitung damals überschwänglich befand, „der besten Bücher über Deutschland nach der Wiedervereinigung“ (Kreye 2010) ist, wird jede*r Leser*in selbst beurteilen müssen. Eine Besonderheit ist unbestritten die Perspektive des Buches. Die Pose des Nicht-interessiert-Seins und dabei doch detailverliebten Beschreibens, die von Uslar auszeichnet. Sein Ziel: „Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung […]. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich dahin, wo der totale Blödsinn auferzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über HartzIV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart“ (14).
Von Uslar kreist viel um sich selbst. Eine Stärke des Buches ist jedoch, dass er dieses Kreisen offenlegt und damit den westdeutschen Blick auf den Osten kenntlich macht, inklusive aller anfänglichen Zweifel, sich für das Projekt entschieden, das Sternerestaurant gegen den Tresen in der Dorfkneipe eingetauscht zu haben. Er verschweigt die Unsicherheit des Reporters bei dessen Ankunft in der Kleinstadt nicht („so setzte ich nun, voller Eindrücke – die natürlich viel zu viele waren für die ersten zwanzig Kleinstadt-Minuten an einem helllichten Tag–, vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Versuchte mitzuhalten, nicht hinzufallen, mich einzureihen in die Kleinstadt“, 55) und artikuliert seine Ost-West-Wahrnehmung: „Insgesamt, so mein Eindruck, war es eine Kleinstadt wie im Westen, bloß ganz anders – grauer, brauner, fieser, härter, geduckter, hinterrückser, zwielichtiger, gemeiner“ (45). Die in dem Zitat zum Ausdruck kommenden Zuschreibungen – und da schließt sich der Bogen zur Ost-West-Thematik – liegen allerdings genau darin begründet, dass von Uslar glaubt, jederzeit als „Wessi“ erkannt zu werden: „Es war ein Talent, ein Wesenszug der Bevölkerung der Bürgersteige in der Kleinstadt, dass sie mich, den Reporter, auf den ersten Blick als West-Menschen, Eindringling, potenziellen Störenfried, identifizierte“ (60).
Diese Beziehung in Schieflage zwischen Ost und West, zwischen Provinz und Großstadt, zieht sich durch den gesamten Text: Moritz von Uslar bezeichnet sich immer wieder als „Wessi“ oder „Westmensch“ und wird von den Bewohnern der Kleinstadt als „Stadtmensch. Seine intellektuelle Heiligkeit. Seine intellektuelle Kleinigkeit“ (96) betitelt. Während von Uslar es genießt, freiwillig aus der Stadt nach Zehdenick gekommen zu sein, begreift er auch, dass der Weg in die andere Richtung aus vollkommen anderen Motivationen heraus erfolgt. „Ich bekam ein Provinz-Grusel-Frieren, und mir fiel ein, dass fast alle Bedienungen, Türsteher, sonstigen Fachkräfte aus den schicken Clubs und Restaurants in Berlin genau aus diesen Orten, der deutschen Provinz, kamen, und wie oft man von diesen Leuten gehört hatte, wie froh, regelrecht erlöst sie waren, der Enge ihrer Heimatstädte und Heimatdörfer entkommen zu sein und nun in der Großstadt leben zu dürfen. Logisch, der normale Mensch wollte weg von hier, raus aus der Kleinstadt, nichts wie in die große Stadt“ (141). Deshalb befand Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung zu Recht, von Uslar beschreibe weniger ein Ost-West-Verhältnis, sondern vor allem einen „tiefe[n] Graben zwischen Bildungsbürgertum und Unterschicht“ (Kreye 2010).
Die von Moritz von Uslar porträtierte Sozialfigur des mittelalten ostdeutschen Mannes spielt in der aktuellen Debatte um „Frakturen“ der ostdeutschen Gesellschaft und Rechtsradikalismus eine zentrale Rolle. Sie zu porträtieren ist von Uslar in seiner Art der Beobachtung, die im wissenschaftlichen Sinne keine teilnehmende Beobachtung oder Feldforschung ist, sondern eher ein subjektiv festgehaltenes Mitschwimmen, Mitleben und Mittrinken, möglich, gleichwohl sie auch stark kritisiert wurde: als zu empathisch, distanzlos und Rechtsradikalismus gegenüber unkritisch (vgl. etwa Präkels 2017).
In der Beschreibung der Figuren, die in „Deutschboden“ die Vorbilder für die Sozialfigur vom „Superproll des Ostens“ liefern, steht deren „Ossi-Sein“ indes nicht im Zentrum. Der Autor beobachtet vor allem die Binnendifferenzierung der sozialen Gruppe, in der er sich bewegt: „Da waren wirklich alle Typen miteinander zugange, also Dauer-blau mit Freitagabend-blau mit Gerade-ausgelernt mit Alles-gehabt-alles-verloren mit Die-Geschäfte-laufen mit Noch-nie-gearbeitet mit Du-musst-ein-Schwein-sein mit Scheiß-Weiber-Scheiß-Politiker mit Ich-kenne-mich-aus-in-den-modernen-Zeiten mit Lass-mal-gut-sein-Alter“ (88). Auf der Suche nach dem „Gesicht des modernen Unterschichtlers“ bricht von Uslar aber seine eigene klischeebehaftete Narration: „Der Reporter hatte zwischendrin überlegt […], ob es das typische Prekarier-Gesicht gab. Dann wusste der Reporter sofort, auf und ab guckend, das Bier in der Hand: Gab es wohl nicht (bei dieser Fragestellung hatte ich jetzt komischerweise ein moralisches Problem, das war ja ganz widerlich)“ (88).
Eine weitere Besonderheit der Bücher liegt darin, dass sie und ihre Rezeption selbst Teil der medialen Reflexionsgeschichte des Rechtsradikalismus im Osten sind. Gerade „Nochmal Deutschboden“ wurde vorgeworfen, zu unkritisch mit den eigenen Figuren, zu männerlastig und zu unpolitisch zu sein. Denn zwischen 2010 und 2020, den Erscheinungsjahren der Bücher, gründete sich die AfD, rückte die auch in Zehdenick alltägliche Fremdenfeindlichkeit und der Rechtsradikalismus in den Fokus. Während von Uslar 2010 in „Deutschboden“ noch schrieb, Nazis fände er „wahnsinnig langweilig“ (22), eine Perspektive, die in der Rezeption des Buches nicht übermäßig delegitimiert wurde, erscheint es 2020 unzulässig, das Thema auszublenden (vgl. DLF 2020), denn der Gegenstand habe sich verändert: Das Klima habe sich mit der AfD verschärft, der Umgang miteinander sei auch in Zehdenick „härter und politischer geworden“.
Moritz von Uslar: Nochmal Deutschboden. Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz. © KiWi Verlag
Fazit: Von Uslar schreibt keinen Bericht einer Annäherung zwischen Ost und West und auch keine Bücher, die in didaktischer Absicht darauf hinauslaufen, Perspektiven und Urteile über „den Osten“ zu korrigieren. Doch dass er sie und ihre Grenzen beschreibt und reflektiert, ist eine Stärke der Bücher und Voraussetzung dafür, zu diskutieren, welche Veränderungen in der Gegenstandsbeschreibung und in der gesellschaftlichen Debatte in Bezug auf Rechtsradikalismus zwischen 2010 und 2020 stattgefunden haben. Moritz von Uslar bietet mit seinem Porträt somit eine Grundlage für kontroverse Diskussionen über die Facetten einer ostdeutschen Identität. Seine Herangehensweise ist nicht jedermanns Sache. Wer jedoch einen popliterarisch colorierten, zwischen Belletristik, Reportage und subjektivem Erlebnisbericht changierenden Blick in die (hier ostdeutsche) Provinz werfen, dabei im Vergleich beider Bücher etwas über die (ausbleibende?) Veränderung dieses durchweg männlichen Blicks im Zeitverlauf lernen und sich an dessen Perspektive und Subjektivität reiben möchte, begebe sich auf „Deutschboden“ und „Nochmal Deutschboden“.
Literatur
Kreye, Andrian: Wo die wilden Kerle wohnen, in: Süddeutsche Zeitung, 5.10.2010.
Präkels, Manja: Echte Männer, geile Angst, in: Spiegel Online, 9.12.2017, URL: https://www.spiegel.de/spiegel/moritz-von-uslars-roman-deutschboden-und-die-wirklichkeit-a-1182454.html [14.06.2023].
„Der Umgang ist härter geworden“. Moritz von Uslar im Gespräch mit Joachim Scholl, in: DLF, 6.3.2020, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/moritz-von-uslar-ueber-sein-zweites-deutschboden-buch-der-100.html [14.06.2023].
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- 28/06/2023 - 09:12