von Felix Axster, Historiker, und Mathias Berek, Kulturwissenschaftler. Beide arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin sowie am bundesweiten Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).
Auf dem Cover der vorliegenden LaG-Ausgabe ist ein Foto abgebildet, das heute im Kali-Bergbaumuseum in Bischofferode gezeigt wird. Dort wird unter anderem an den wohl bekanntesten Arbeitskampf der Wende- und Nachwendezeit erinnert: Fast das ganze Jahr 1993 hindurch versuchten die Kali-Werker*innen, die Schließung des Schachts im thüringischen Eichsfeld durch die Treuhandanstalt zu verhindern, einige traten sogar in einen mehrwöchigen Hungerstreik.
Eine ihrer Protestaktionen ist auf dem Foto dokumentiert. Gerhard Jüttemann, Protagonist des Arbeitskampfes und heute Mitbetreiber des Museums, erzählt, wie er und andere am 1. Mai 1993 an die ehemalige innerdeutsche Grenze gefahren seien und als Symbol einer neuen Grenze einen Zaun aufgebaut hätten. An diesem Zaun wurde, wie das Foto zeigt, ein Transparent angebracht, auf dem zu lesen ist: „Achtung! Deutsche Kolonie / verwaltet durch die Treuhandanstalt der Bundesregierung / Die Kaliwerker“.
Die Kali-Werker*innen waren nicht die Ersten, die sich die Kolonisierungs-Analogie zu eigen machten. Diese kam bereits kurz nach dem Mauerfall in Umlauf. Gerade in linken und linksradikalen Milieus, die dem Einigungsprozess kritisch gegenüberstanden, da sie einen neuerlichen Aufstieg Deutschlands zur imperialen Großmacht befürchteten oder weil sie eine Gesellschaft jenseits von real existierendem Sozialismus und kapitalistischer Markt- und Konkurrenzwirtschaft realisieren wollten, war sie weit verbreitet, wenn auch nicht unumstritten.
Zugleich gab es auch Rechte, wie den Wissenschaftler und Autor Arnulf Baring, die angesichts der postsozialistischen Transformation von Kolonisierung sprachen, allerdings in affirmativer Weise. Baring zufolge war eine „Kolonisierungsaufgabe“ zu bewältigen: Er forderte „eine langfristige Rekultivierung, […] eine neue Ostkolonisation“, um die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Verwerfungen des real existierenden Sozialismus, der die Menschen „verzwergt“ habe, zu überwinden (Baring 1991: 70 und 59).
Schließlich war auch die Alltagssprache von kolonialen Semantiken geprägt, und zwar jenseits der Zugehörigkeit zu politischen Lagern. Dies veranschaulicht der Anfang der 1990er Jahre durchaus gebräuchliche Begriff der „Buschzulage“, der, in Anlehnung an die um 1900 in die deutschen Kolonien entsandten kaiserlichen Beamten, die Sonderzahlungen für westdeutsche Beamte bezeichnete, die im Rahmen des infrastrukturellen Aufbaus in der ehemaligen DDR tätig waren.
Interessanterweise hat die Kolonisierungs-Analogie seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Grenzen zwischen postkolonialen und postsozialistischen Diskurs- und Debattenräumen durchlässiger geworden sind. Anders in den 1990er Jahren, in denen in Deutschland eine breitere Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte und postkolonialer Theorie überhaupt erst begann und die postsozialistische Kolonisierungs-Analogie gänzlich unabhängig davon Karriere machte.
Von heute aus erstaunt es, dass damals zwischen diesen beiden Strängen kaum Berührungspunkte bestanden. So gehen etwa die beiden Wissenschaftler Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar in der Einleitung ihres 1996 herausgegebenen, gewissermaßen kanonischen Sammelbands „Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses“ nur sehr am Rande auf die Kolonialvergangenheit des Deutschen Kaiserreichs ein (Dümcke/Vilmar 1996). Das gilt auch für das bereits 1991 erschienene Buch „Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Länder“ der Journalisten Peter Christ und Ralf Neubauer (Christ/Neubauer 1991).
Doch inzwischen besteht ein reger Austausch zwischen postkolonialer Kritik und Rassismustheorie einerseits und postsozialistischer Transformationsforschung andererseits. Ob es sich um die viel rezipierte Studie „Ost-Migrantische Analogien“ des Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) handelt (Foroutan et al. 2019), um den Begriff der „West-Privilegien“ (Goel 2010), um das Konzept der Critical Westness, das an die Analysekategorie Critical Whiteness angelehnt ist (Schulze 2019), oder aber um die Abwandlung von ‚Rassifizierung‘ in ‚Ossifizierung‘ (Heft 2020) – immer wieder werden Analysetools aus der Rassismus- und (Post-)Kolonialismusforschung auf die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen West und Ost bzw. auf die Frage nach west-/ostdeutschen Dominanzverhältnissen übertragen. Und so kann etwa bei der Lektüre von Dirk Oschmanns aktuellem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ das Gefühl aufkommen, dass gerade eine Orientalismus-Debatte 2.0 in Gang ist – das 1978 erschienene Buch „Orientalism“ von Edward Said, in dem argumentiert wird, dass „der Orient“ mit all seinen vermeintlichen Eigenschaften im Zuge kolonialer Wissensproduktion konstruiert und letztlich so erst erschaffen wurde, gilt gemeinhin als einer der Gründungstexte der postkolonialen Kritik (Said 1978).
Die Durchlässigkeit zwischen Transformationsforschung und Rassismuskritik bzw. Postkolonialismus erweist sich unseres Erachtens als durchaus produktiv. Doch zugleich tun sich Schwierigkeiten auf – vor allem bei der Frage, wie angemessen die Übertragungen sind, weil die jeweiligen Dominanz- und Herrschaftsbeziehungen eben doch ihre Eigenheiten bewahren. Koloniale (oder auch postkoloniale) Herrschaftsbeziehungen verweisen nun einmal stets auch auf Rassismus sowie auf die Kategorie Rasse. Dieser Bezugsrahmen droht im Zuge der Übertragung auf Dominanzverhältnisse zwischen West und Ost verloren zu gehen. Entsprechend wäre zu diskutieren, ob bereits etablierte Begriffe wie Kolonisierung geeignet sind, um Bezugnahmen zwischen antirassistischen und antikolonialen Kämpfen einerseits und gegen postsozialistische Dominanzverhältnisse gerichtete Kämpfe andererseits zu ermöglichen, oder ob es neuer, gegebenenfalls noch zu erschaffender Begriffe bedarf, die Unterschiede gerade nicht einebnen.
Die vorliegende Ausgabe des LaG-Magazins versteht sich als Beitrag zu dieser Diskussion.
Literatur
Baring, Arnulf: Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991.
Christ, Peter/Neubauer, Ralf: Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Länder, Berlin 1991.
Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz: Was heißt hier Kolonialisierung? Eine theoretische Vorklärung, in: dies. (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1996, S. 12–21.
Foroutan, Naika et al.: Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung, Berlin 2019.
Goel, Urmila: Westprivilegien im vereinten Deutschland, in: Telegraph H.120/121, 2010, S. 8–15.
Heft, Kathleen: Kindsmord in den Medien. Eine Diskursanalyse ost-westdeutscher Dominanzverhältnisse, Opladen u.a. 2020.
Said, Edward: Orientalism, London/Henley 1978.
Schulze, Heiner: Critical Westness: Unsichtbare Normen und (west)deutsche Perspektiven, in: Ost │Journal H. 5/2019, URL: https://web.archive.org/web/20220517052916/https://www.ost-journal.de/critical-westness-unsichtbare-normen-und-westdeutsche-perspektiven/[14.06.2023].
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- 28/06/2023 - 09:12