Vom Lohnprotest zum Massenaufstand. Ablauf, Hintergründe und Lehren des 17. Juni 1953 in der DDR
von Michael Gehler
Es ist ein Schlüsseldatum der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte: Hundertausende Menschen demonstrierten am 17. Juni 1953 für bessere Arbeitsbedingungen und Freiheit von der Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der Deutschen Demokratischen Republik. Wie war es dazu gekommen?
Machtverschiebung im Kreml und ostdeutsche Wirtschaftsmisere
Am 5. März 1953 starb Stalin. Der DDR-Ministerrat verordnete „Landestrauer“. An die Stelle des Diktators trat in Moskau eine Troika mit Nikita Chruschtschow, Georgij Malenkow und Lawrenti Berjia, die um die angespannte Lage in Ostdeutschland wusste: Verantwortlich für die Zunahme der Flüchtlingszahlen in den Westen war der Druck auf Bauern, Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beizutreten, die Furcht vor Abschaffung des Privateigentums sowie die schwierige Versorgungslage. Das Zentralkomitee (ZK) der SED beschloss zudem die Erhöhung der Arbeitsnormen in den Volkseigenen Betrieben (VEB) um mindestens zehn Prozent zum 30. Juni. Und obwohl Berija eine Änderung der Politik in der DDR durch Förderung der Konsumgüterproduktion und Lockerung der Repressionspolitik empfahl, wurde am 28. Mai im SED-Zentralorgan Neues Deutschland der Beschluss zur Erhöhung der Arbeitsnormen publiziert.
Arbeiterproteste und Massenversammlungen
Kurz darauf wurden der damalige Staatsratsvorsitzende Ulbricht und Genossen zu geheimen Konsultationen nach Moskau bestellt. Die Delegation kehrte mit der strikten Order zurück, die 1952 von Stalin genehmigte SED-Politik des „planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“ zurückzunehmen und einen Richtungswechsel einzuleiten, um die Krise in der DDR zu entschärfen. Und so folgte am 9. Juni 1953 eine öffentliche Selbstkritik des Politbüros. Ein „Neuer Kurs“ wurde verkündet, an der Erhöhung der Arbeitsnormen jedoch festgehalten. Die Parteibasis war angesichts dieser 180-Grad-Wende verwirrt, die Bevölkerung witterte Führungsschwäche. Auf Baustellen in Ost-Berliner Betrieben wurde gestreikt und die Rücknahme der Normenerhöhung gefordert. Am 16. Juni bezeichnete die Tageszeitung der DDR-Gewerkschaft Tribüne die Normenerhöhung als falsch, allerdings könne sie „nicht mehr zurückgenommen werden“, worauf sich, ausgehend von einer Baustelle auf der Stalin-Allee ein Demonstrationszug von mehreren hundert Arbeitern bildete. Am frühen Nachmittag erreichte er das Haus der Ministerien, wo sich schon über zehntausend Menschen versammelt hatten. Das Politbüro erkannte den Ernst der Lage nicht rechtzeitig. Die Stimmung war aufgeheizt und Demonstrierende forderten den Rücktritt der Regierung. Selbst die Bekanntgabe der Rücknahme der Normenerhöhung durch Industrieminister Fritz Selbmann konnte die Demonstranten nicht mehr besänftigen. Sie riefen zum Generalstreik und weiteren Protestaktionen am nächsten Tag auf. Der Radiosender RIAS im westlichen Sektor Berlins berichtete ausführlich über die Ereignisse. Der Kreml traf am Abend des 16. Juni die Entscheidung zum Eingreifen sowjetischer Truppen. Ihre in der DDR stationierten Verbände setzten sich Richtung Berlin in Marsch.
Streiks und Volksaufstände
Am 17. Juni ist bereits in den frühen Morgenstunden der gesamte ostdeutsche Polizei- und Sicherheitsapparat in höchster Alarmbereitschaft. Noch geht er davon aus, dass die Streiks auf Ost-Berlin beschränkt bleiben. Die dortigen Unruhen breiten sich indes rasch auf weitere Stadtbezirke aus. Fast alle Baustellen und Betriebe werden bestreikt. „Operativgruppen“ der Staatssicherheit nehmen Streikende und Demonstrierende fest, die freie Wahlen und die deutsche Einheit fordern. Auch sowjetische Militärstreifen und Polizeieinheiten verhaften Aufständische. Die SED-Spitze wird auf sowjetische Weisung nach Karlshorst, ins Hauptquartier der Sowjetischen Militäradministration, in Sicherheit gebracht. Die ersten sowjetischen Panzerverbände erreichen den Alexanderplatz und die Hauptstraßen der Innenstadt. Sie postieren sich an Knotenpunkten, öffentlichen Gebäuden und an der Sektorengrenze. Gegen 11 Uhr demonstrieren in Ost-Berlin etwa hundertfünfzigtausend Menschen. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei. Der öffentliche Verkehr steht still. In über 700 Städten und Gemeinden wird gestreikt, landesweit entwickeln sich Aufmärsche und Unruhen. Die Zentren des Aufstands liegen in den südlichen Gebieten der DDR. Demonstranten stürmen Bezirksleitungen, Gewerkschaftsgebäude, Kreisdienststellen der Stasi, Rathäuser sowie Gefängnisse; angeblich werden tausendfünfhundert Häftlinge befreit.
Militärintervention, Repression und ihre Opfer
Gegen 12 Uhr räumen sowjetische Panzer in Schrittgeschwindigkeit Straßen und Plätze in Ost-Berlin. Erste Schüsse fallen. Um 13 Uhr verhängt die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über die Hauptstadt sowie in weiteren 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten. Kriegsrecht gilt nun in 167 von insgesamt 217 Stadt- und Landkreisen. Derweil eskaliert die Lage in Berlin: Autos, Kioske und Wachhäuser werden angezündet und Ladenzeilen geplündert. Mehrmals räumen sowjetische Kampfverbände die Innenstadt. Gegen Nachmittag bröckelt und erlahmt die Protestbewegung. Um 19 Uhr fallen letzte Schüsse im Ost-Berliner Zentrum. Das SED-System schlägt erbarmungslos zurück; der Aufstand scheint gebrochen.
Bereits am 18. Juni weist der stellvertretende Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, per Blitzfernschreiben alle Diensteinheiten an, „Agitatoren“, „Drahtzieher“, „Hetzer“, „Provokateure“, „Saboteure“, „Rädelsführer und andere Elemente“ zu verhaften. In vielen Betrieben streiken die Beschäftigten jedoch weiter. Die Kasernierte Volkspolizei geht teilweise mit Waffen gegen „Zusammenrottungen“ vor. Willy Göttling, Alfred Dartsch und Herbert Stauch sind in unterschiedlichen Städten die bekannten Personen unter jenen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht standrechtlich erschossen wurden. Das ZK spricht von einem „von langer Hand vorbereiteten Tag X“ und einem von westlicher Seite gelenkten „faschistischen Putsch“.
Berliner bekunden in einer Demonstration ihr Vertrauen zur Regierung, 26.6.1953. © Foto: 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundesarchiv Bildstelle, Heinz Junge, Bild 183-20115-0002
In der letzten Juni-Woche heben die Sowjets den Ausnahmezustand auf. Anfang Juli 1953 setzt jedoch eine zweite Streikwelle in mehreren großen VEB ein. In den Buna-Werken in Schkopau übersteigt die Streikbewegung sogar den 17. Juni 1953. Köpfe der SED-Herrschaft müssen rollen: Justizminister Max Fechner wird wegen „partei- und staatsfeindlichen“ Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet; Innenminister Wilhelm Zaisser entlassen. Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland, wird aus ZK und Politbüro ausgeschlossen.
Laut Stasi-Unterlagen-Archiv hatten zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen an den Protesten teilgenommen, je nach Sichtweise 5,2 bis 19,5 Prozent der Berufstätigen. Die Angaben zur Zahl der Toten variieren. Bekannt sind 51 getötete Demonstrierende und 3 Parteigenossen. Mindestens 20 Deutsche wurden standrechtlich hingerichtet und wegen Befehlsverweigerung offiziell 41 sowjetische Offiziere und Soldaten. 123 völlig unbeteiligte Personen kamen ebenfalls zu Tode. Rund 5.600 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet und zweimal die Todesstrafe ausgesprochen. Über 6.000 Personen gerieten in Haft.
Der europäische Kontext
Auch in der Tschechoslowakei kriselte die Wirtschaft. Ein in Ungarn eingeleiteter „Neuer Kurs“ und die dort verkündeten Reformen stießen daher bei Tschechen und Slowaken auf Interesse. Im Zuge eines Währungsumtausches am 30. Mai 1953, der einem Entzug von privaten Altguthaben und Kontoeinlagen gleichkam, folgten am 1. Juni in größeren Städten Protestmärsche. In Pilsen besetzten Demonstrierende das Rathaus und das Stadtradio. Armeeverstärkungen, bewaffnete Grenzschutzeinheiten, Polizei und Volksmilizen aus Prag stellten am Abend wieder Ruhe und Ordnung her. Haftstrafen, Strafprozesse und Verurteilungen folgten.
Der jugoslawische Theoretiker des Kommunismus Edvard Kardelj bezeichnete den 17. Juni als „das wichtigste Ereignis“ seit dem Bruch Titos mit Stalin 1948 und kritisierte die sowjetische Intervention scharf. Auch in Polen war man durch westliche Rundfunksender über die Forderungen der Aufständischen informiert und teilte sie weitgehend. Der kommunistischen Propaganda, die von einer „Konterrevolution“ sprach, wurde kein Glauben geschenkt. Vielmehr kam es auch in Polen zu Arbeitseinstellungen und damit zu einer Senkung der Produktivität. Die Stimmung gegenüber dem eigenen kommunistischen Regime änderte sich. Im Sommer 1956 folgten Aufstände in Posen.
Der Westen als Gewinner
Der Vorschlag des britischen Premiers Winston Churchill vom 11. Mai 1953, eine „einsame Pilgerreise“ nach Moskau zu unternehmen, um mit dem Kreml über ein neutralisiertes Gesamtdeutschland zu verhandeln, wurde mit dem 17. Juni hinfällig. In Moskau wurde Berija gestürzt, aller Ämter beraubt und am 23. Dezember hingerichtet. Die Sieger des Zweiten Weltkrieges blieben aus Prinzipientreue Verbündete, weil es um die Konsolidierung ihrer Einflussbereiche ging – sowohl in Berlin als auch in Deutschland als Ganzem. Gewinner war Bundeskanzler Konrad Adenauer. Die Niederschlagung des 17. Juni stärkte seine Position sowohl im Bündnis mit den Westmächten als auch innenpolitisch, wie sein Wahlsieg mit großem Stimmzuwachs am 6. September zeigte. Verlierer waren die Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang, die vergeblich auf die Einheit gehofft hatten. Die Tragik des 17. Juni bestand darin, dass sein Scheitern allen Gegnern eines Kompromisses zwischen Ost und West in die Hände spielte. Psychologisch blieb der 17. Juni jedoch für die Menschen in der DDR bedeutsam. Er wurde Teil ihres privatisierten Selbstverständnisses.
Konsequenzen und Lehren
Der 17. Juni führte zu einem Trauma der SED-Führung, der die Angst vor der eigenen Bevölkerung im Nacken saß – trotz des Mauerbaus 1961 und der Allmacht des Überwachungsstaats im Staat, der Stasi. Nach dem 9. November 1989 erscheint der 17. Juni, der auf Vorschlag des Sozialdemokraten Herbert Wehner noch im selben Jahr als „Tag der deutschen Einheit“ im Westen zum gesetzlichen Feiertag wurde, als vorrevolutionärer Aufstand. Denn im kollektiven Bewusstsein war die Erfahrung des 17. Juni so verankert, dass darin ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage gesehen werden kann, warum der Herbst 1989 friedlich verlaufen ist – umso verwunderlicher, dass 1990 der gesetzliche Feiertag des 17. Juni abgeschafft wurde, der offenbar im Westen Deutschlands einen anderen Stellenwert besessen hatte. Es war eine der merkwürdigsten Begleiterscheinungen der deutschen Vereinigung, die mit Blick auf die wertvolle vorrevolutionäre Erfahrung umso unverständlicher ist. Einmal mehr wurde deutlich, wie schwer sich Deutschland mit seiner eigenen Geschichte tut, obwohl sie doch zeigt, wie vermeintliche Niederlagen das Fundament für Fortschritt legen können.
Ferner zeigt der 17. Juni beispielhaft, dass politische Systeme bei anhaltender Mangelwirtschaft und unterlassenen Maßnahmen existenzielle Legitimationsprobleme bekommen. Zu spät eingeleitete Reformen, von denen die Arbeiter*innen ausgenommen waren, führten zur Explosion des Unmuts. Die Bildung revolutionärer Organisationsformen von längerem Bestand war jedoch aufgrund des staatlichen Repressionsapparats mit sowjetischer Unterstützung in der DDR nicht möglich. Eine Revolution im „Ostblock“ konnte nur bei gleichzeitigen länderübergreifenden Aufständen Aussicht auf Erfolg haben, wie das Jahr 1989 zeigt. Und obwohl der 17. Juni keine zentrale Führungsfigur hervorbrachte, war er mittel- und langfristig beispielgebend, was die Aufstände in Ungarn (1956) mit Imre Nagy, die Reformen in der Tschechoslowakei (1968) mit Alexander Dubček oder die Streiks der Gewerkschaftsbewegung Solidarność im Polen der 1980er Jahre mit Lech Wałęsa zeigten. Eine erfolgreiche Revolution konnte letztlich nur mit aktiver Unterstützung des internationalen Umfelds gelingen.
Die sowjetische Militärintervention war gleichwohl lediglich ein Grund für das Misslingen des 17. Juni. Er scheiterte auch, weil der Westen nicht eingreifen wollte. Das Geschehen war für Washington nicht prioritär, wurde aber instrumentalisiert, um die Westintegration der BRD abzusichern. Aus Sicht des US-amerikanischen Außenministeriums sollte der „Topf auf kleiner Flamme kochen, ohne es zum Überkochen kommen zu lassen“ (zitiert nach Gehler/Steininger 2018: 145). Die Ostdeutschen erwarteten jedoch mehr als nur eine zur Schau getragene moralische Ermunterung und propagandistische Solidarität. Entgegen ihrer Einheitsforderung trugen die Aufbegehrenden ungewollt zur Verstetigung der deutschen Teilung bei. Zuletzt lehrt der 17. Juni, dass staatlich verordnete Tabus eines Tages aufbrechen (können): Die Desinformationspolitik der SED vom „Putschversuch faschistischer Provokateure“ und von der „Konterrevolution“ war trotz staatlicher Propaganda und offizieller Geschichtsklitterung nicht glaubhaft.
Literatur in Auswahl (mit ausführlichen Bibliografien zum Thema)
Gehler, Michael/Steininger, Rolf: 17. Juni 1953. Der unterdrückte Volksaufstand. Seine Vor- und Nachgeschichte, Reinbek/Hamburg 2018.
Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Geschichte eines Aufstands, München 2013.
Wolle, Stefan: Der 17. Juni 1953, Erfurt 2013.
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- 26/04/2023 - 08:06